Die Krimiserie Monk widmete sich als eine der ersten Fernsehsendungen der Zwangserkrankung, aber ließ sie die Krankheit oft als lustig erscheinen – doch im realen Leben kann und soll man die Erkrankung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn in der Realität geht eine Zwangsstörung mit einem enormen Leidensdruck für die Betroffenen einher.
Routine oder Zwang?
Habe ich das Licht im Badezimmer gelöscht? Man grübelt, überlegt und dann geht man doch nochmal in die Wohnung um zu überprüfen – kein Licht.
Solche Situationen erleben wir täglich. Zehnmal tasten wir in der Hosentasche, ob wir das Portemonnaie dabeihaben. Diese Momente sind nervig und zeitaufwändig. Doch eine Zwangsstörung sind sie nicht.
Ritualisierende Abläufe und alltägliche Routine geben uns Sicherheit und Struktur im Alltag. Was Zwänge von alltäglichen, wiederkehrenden Ritualen unterscheidet ist, dass unerwünschte Ge-
danken und Handlungen immer mehr Zeit beanspruchen und zunehmend einen Leidensdruck bei den Betroffenen auslösen bzw. deren Alltag beherrschen. Zudem wissen die Betroffenen meist um die Unsinnigkeit von Zwangsgedanken bzw. -handlungen, sind aber nicht in der Lage, auf die kurzfristig erleichternd wirkenden ritualisierten Handlungen zu verzichten. Zwänge können also trotz Einsicht und Vernunft kaum unterdrückt werden.
Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
Eine Zwangserkrankung äussert sich in sich wiederholenden Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen: So müssen eine bestimmte Handlung immer wieder ausgeführt oder ein Gedanke immer wieder durchgegrübelt werden. Dabei unterscheidet man zwischen Zwangsgedanken und Zwangshandlungen:
– Zwangsgedanken:
Zwangsgedanken sind Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die sich gegen den Willen des Betroffenen aufdrängen. Sie werden als sehr unangenehm oder quälend erlebt. Bekannte Zwangsgedanken sind z.B. Angst, sich durch Händeschütteln zu verschmutzen bzw. mit Krankheitserregern anzustecken. Solche Gedanken lösen Angst- und Schamgefühle aus und führen oft zum Vermeidungsverhalten: Die Betroffenen versuchen, Situationen aus dem Weg zu gehen, in denen solche Gedanken auftreten oder mit einer Zwangshandlung diese Angst in den Griff zu bekommen. Sodass zum Beispiel ein wiederholtes, ständiges und zeitaufwändiges Händewaschen die darauffolgende Zwangshandlung sein kann.
Auch gedankliche Rituale sind bei Zwangsstörungen kein seltenes Symptom. Sie dienen Betroffenen dazu, Zwangsgedanken wieder zu „neutralisieren“. Ein Beispiel: Zunächst drängt sich ein aggressiver oder blasphemischer Zwangsgedanke auf. Als Konsequenz „muss“ innerlich ein Gebet aufgesagt werden, damit die Angst und Anspannung abflauen. Manche Patienten „müssen“ zum Beispiel bestimmte Formeln aufsagen, damit Angehörigen kein Unglück passiert.
– Zwangshandlungen:
Zwangshandlungen zeigen sich in sich wiederholenden, immer gleichen Verhaltensabläufen. Zum Beispiel kontrolliert ein Erkrankter zehnmal nacheinander, ob die Haustür verschlossen ist – obwohl er weiß, dass er die Tür zu gemacht hat. Trotzdem muss er die Aktion in stereotyper Weise wiederholen, bis er sich endlich einigermaßen sicher fühlt. Zwangshandlungen laufen meist nach selbst definierten „Regeln“ ab. Sie heißen daher auch Zwangsrituale. Beispielsweise berührt ein Betroffener jede Herdplatte einzeln in einer genau festgelegten Reihenfolge, um zu spüren, ob die Platten alle kalt sind – ob der Herd also wirklich aus ist. Oft muss dabei gezählt und der ganze Vorgang wiederholt werden. So entsteht schließlich ein komplexes Ritual, das exakt befolgt werden „muss“. Passieren dabei „Fehler“, muss es von vorne beginnen. Andernfalls – so fühlt es sich für den Betroffenen an – droht eine selbst verschuldete Katastrophe.
Versuchen Betroffene, die Handlungen zu unterdrücken, tritt Angst oder Anspannung, bei vielen auch ein Ekelgefühl auf. Die Zwangshandlungen dienen dazu, diese unangenehmen Gefühle kurzfristig zu vermindern und wieder mehr Sicherheit zu erlangen.
Langfristig führen Zwänge allerdings zu noch größerer Unsicherheit. Oft schränken sie das Leben massiv ein. Denn Betroffene vermeiden immer mehr Situationen, die Zwänge aus-lösen könnten. Zum Beispiel benutzt ein Mensch mit Kontrollzwang im weiteren Krankheitsverlauf seinen Herd gar nicht mehr, um nicht nach dessen Verwendung kontrollieren zu müssen, ob er ausgeschaltet ist.
Ursache von Zwangserkrankungen
Doch warum «verfallen» Menschen Zwängen? Zwangsstörungen sind meistens mit Ängsten verbunden. So dienen sie in erster Linie dazu, Sicherheit und Probleme zu lösen, die für die Erkrankten auf keine andere Weise zu bewältigen sind.
Bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Zwangserkrankung spielen nach heutiger Erkenntnis immer mehrere Faktoren eine Rolle – psychologische und biologische. Dabei ist es individuell unterschiedlich, welche der einzelnen Faktoren in welchem Ausmaß relevant sind. Familienuntersuchungen und Zwillingsstudien zeigen, dass es – wie bei den meisten psychischen Erkrankungen – eine erbliche Vorbelastung für die Zwangsstörung gibt. Damit sie ausbricht, müssen jedoch weitere Faktoren hinzukommen. Dazu gehören beispielsweise Erfahrungen in der Kindheit, die dazu geführt haben, dass ein Mensch eher unsicher ist und ein stärkeres Kontrollbedürfnis hat. Bei mehr als der Hälfte der Betroffenen ist die Erkrankung mit Stress oder einem schwerwiegenden Lebensereignis verbunden.
Keine Diagnose, keine Therapie
Eine Zwangsstörung ist eine sehr häufige psychische Erkrankung. Trotzdem ist sie mit grosser Scham und auch Ratlosigkeit verbunden. Viele wissen nicht, dass eine Krankheit hinter ihren Be-schwerden steckt. Statt einen Arzt um Rat zu fragen, schämen sich für ihr unsinniges Verhalten und versuchen, ihre Probleme zu verheimlichen. Meist bessern sich Zwänge jedoch nicht von selbst – im Gegenteil. Oft breiten sie sich auf immer mehr Situationen im Leben aus, rauben immer mehr Zeit. Es fällt schwerer, Beruf und soziale Kontakte aufrecht zu erhalten. Familienangehörige und Freunde reagieren oft mit Unverständnis.
Betroffenen fällt es schwer, sich einem Psychologen oder Psychiater anzuvertrauen. Ein Facharzt für Psychiatrie oder ein Psychotherapeut kann jedoch mittels einer ausführlichen Diagnose fest-stellen, ob es sich tatsächlich um eine Zwangserkrankung handelt oder ob die Zwangssymptome Zeichen einer anderen psychischen Störung sind. Dabei sind für eine Zwangserkrankung folgende Merkmale gemäss ICD-10 Klassifikation typisch:
– Die Zwangshandlungen und -gedanken oder -impulse treten seit mindestens zwei Wochen, und davon an den meisten Tagen auf.
– Die Zwänge werden als quälend und/oder sinnlos empfunden.
– Der Alltag wird durch die Zwänge beeinträchtigt.
– Zwangsgedanken und -impulse werden der eigenen Person zugeordnet, sie werden also nicht als „fremd“ oder „von außen gemacht“ erlebt.
– Bei Widerstand/Unterlassung kommt es zu innerer Unruhe und Angst.
Zwangsstörungen treten oft zusammen mit Depressionen und Angststörungen auf.
Zwangserkrankungen sind behandelbar
Die Therapie von Zwangsstörungen ist individuell und richtet sich nach Schwere und Art der Störung. Infrage kommen eine psychotherapeutische (verhaltenstherapeutische) Behandlung und eine medikamentöse Therapie. Häufig wird beides kombiniert.
Bei Kindern und Jugendlichen ist die Einbeziehung der Familie verpflichtend. Auch bei erwachsenen Zwangserkrankten ist der Einbezug von Partnern und Familienangehörigen in aller Regel sinnvoll beziehungsweise sogar notwendig.
Zum Autor
Dr. med. Marc Risch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er studierte Humanmedizin in Zürich und Innsbruck und schloss sein Studium in Innsbruck mit einem Doktorat ab. In den weiteren Jahren absolvierte er vertiefende Ausbildungen unter anderen in den Bereichen Krisenintervention, wo er zusammen mit seiner Frau als Ausbildner für das Rote Kreuz tätig war. Seit 2012 führt der Psychiater seine eigene Praxis in Schaan und arbeitet als Chefarzt im Clinicum Alpinum.
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