Eine 29-Jährige, die Monate nach einer leichten Covid-19-Erkrankung nicht einmal mehr 200 Meter gehen kann, ohne in Atemnot zu geraten. Das ist kein Einzelfall, sondern typisch für Long Covid. Diesem Phänomen widmeten sich Experten am vierten Qualitätszirkel am Clinicum Alpinum.
Seit Beginn des Jahres bietet das Clinicum Alpinum Behandlungen für Long-Covid-Patienten an – man habe sich damit auf eine «Reise ins Unbekannte» begeben, meinte Co-Chefarzt Michael Holzapfel gestern einleitend zu einem Vortragsabend. Der vierte Qualitätszirkel an der Klinik widmet daher dem Thema «Quo vadis Long Covid?». Denn noch immer ist vieles unbekannt, auch die Experten lernen von Woche zu Woche hinzu. Thomas Neumann, Rheumatologe und Entzündungsspezialist am Kantonsspital St. Gallen, gab einen Überblick über die bisherigen Erkenntnisse aus seiner Fachrichtung. Beeindruckt zeigt er sich davon, wie viele Wissenschaftler sich seit Beginn der Pandemie mit dem Coronavirus und Covid-19 befasst haben. Damit diese Informationen schnell zur Verfügung stehen, wurde meist auf einen Review-Prozess vor der Publikation verzichtet – normalerweise ein wissenschaftliches «No-Go», das auch für die ein oder andere «Ente» gesorgt hat. Trotz der grossen Forschungstätigkeit ist aber noch vieles offen – Neumann hofft aber, dass man später auch beispielsweise in der Krebsbehandlung von den Erkenntnissen aus der Pandemie profitieren kann.
Die Krankheit nach der Krankheit
Immer klarer wird hingegen, dass eine überstandene Covid-19-Infektion noch lange nicht heisst, dass man über dem Berg ist. Long Covid, dass in Kommentarspalten auch mal als «Massenhysterie» abgetan wird, trifft rund 40 Prozent der Infizierten. Darunter viele junge Menschen, oftmals Frauen, die zunächst nur einen milden Krankheitsverlauf aufwiesen. Gregory Fretz, Pneumologe und leitender Arzt für innere Medizin am Kantonsspital Graubünden, schätzt, dass 5 bis 10 Prozent sogar so schwer an Long Covid erkranken, dass sie ihrem Alltag nicht mehr nachkommen können. Mit solchen Patienten hat er täglich zu tun. Fretz bietet in Chur eine Long-Covid-Sprechstunde an. Exemplarisch schildert er den Fall einer 29-jährigen Pflegefachfrau, die sich nach einer relativ milden Covid-19-Erkrankung mit Durchfall, Atemnot, starker Müdigkeit und zwei Tagen Fieber zunächst wieder erholte. Zwei Monate später suchte sie jedoch den Spezialisten mit typischen Long-Covid-Symptomen auf. Sie litt unter starken Muskelschmerzen und Erschöpfung. «Das haben wir sehr oft, Patienten müssen schon nach wenigen Metern oftmals wieder mehrere Tage im Bett liegen», schilderte Fretz. Auch Atemnot, Kopfweh oder ein erhöhter Ruhepulssind häufige Symptome. Die Ärzte stellen zudem oft Störungen fest, wie man sie sonst eher bei Menschen mit Demenz beobachtet. Dann wird beispielsweise das Handy im Kühlschrank vergessen oder den Patienten fehlen die richtigen Worte, auch Depressionen sind typisch. Viele Betroffene hätten zudem keinen erholsamen Schlaf und wachen morgens komplett erschöpft auf. Im Schlaflabor würden sich aber keine Auffälligkeiten zeigen. Überhaupt ergeben nähere Untersuchungen wie MRI oder CT dann meist völlig normale Werte. Warum dies so ist, ist noch nicht ausreichend geklärt.
Energielevel im Auge behalten
Die eine wirksame Behandlung gibt es bei Long-Covid-Patienten noch nicht, das ist individuell verschieden. Einige Medikamente würden zwar in geringen Dosen Wirkung zeigen. Fretz gibt sich trotzdem zurückhaltend, denn bei manchen Personen sei auch eine Verschlechterung möglich. Die klassische Rehabilitation, das habe sich laut Fretz schnell herausgestellt, führt oft zum «Desaster». Den Patienten ginge es danach vielfach schlechter als zu Beginn. Eine zentrale Rolle spiele aber die Ergotherapie: Patienten müssten oft lernen, ihr Energielevel zu managen. «Wenn sie mit ihren Reserven nicht gut umgehen, verschlechtern sich die Symptome», erzählt der Experte. Der 29-Jährigen ist dies ebenfalls passiert. Nachdem sie sich langsam wieder ins Arbeitsleben herangetastet hatte und die Symptome besser wurden, achtete sie einmal nicht auf ihren Energiehaushalt. Ein Sieben-Stunden-Tag mit anschliessender Sitzung waren dann zu viel – sie war plötzlich wieder einen Monat lang arbeitsunfähig. Solche «Crashs» haben auch die Ärzte am Clinicum Alpinum schon erlebt. «Die Frage ist deshalb auch, ab wann man als geheilt gilt», so Fretz. Die Betroffenen müssen sich aber vielfach auch mit der Frage beschäftigen, ob sie überhaupt als krank gelten. Oft sei nicht klar, ob die Krankenkassen Long Covid überhaupt anerkennt und die Behandlungskosten übernimmt. «Das wird noch ein grosses Thema werden», ist Fretz überzeugt. Er wünscht sich, dass in der Schweiz eine nationale Begutachterstelle geschaffen wird, die die entsprechende Expertise hat. Denn mit der Krankheit an sich hätten die Betroffenen schon genug zu kämpfen.
Daniela Fritz, Volksblatt, 01.10.2021
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Falls Sie ihn versäumt haben, hier finden Sie den Online Vortrag 4.Qualitätszirkel Gaflei
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