Das Berufsbild des Arztes als Begleiter in der Krankheit scheint zu verschwinden. Kann es gelingen, den geistigen und philosophischen Anteil der Medizin wieder zu aktivieren? «Sinne, Sinnlichkeit und Sinn im Arztberuf» und «Ökonomie versus Würde» waren Titel zweier Tagungen von «Minds in Medicine», an denen sich Ärztinnen und Ärzte aus unterschiedlichen Sparten im Tessin trafen, um ihr Berufsbild vor dem Hintergrund sich stetig verändernder Anforderungen zu diskutieren.
von Melitta Breznika, Dr. med., Leitende Ärztin Psychosomatische Rehabilitation Clinica Curativa Scuol, Stiftungsrätin Stiftung für psychosomatische, ganzheitliche Medizin, Rheinfelden; und Michael Holzapfel, Dr. med., Co-Chefarzt Clinicum Alpinum Gaflei, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, FMH, Facharzt (D) für Psychosomatische Medizin, Dozent am Institut
für Humanwissenschaftliche Medizin, Zürich
Die Tagung «Sinne, Sinnlichkeit und Sinn»
Wie man den Beruf des Arztes oder der Ärztin wieder mit «sinnhaftem» Inhalt füllen kann, anstatt resigniert zu ertragen, dass dieser in der Erledigung von «unattraktiven Fleissaufgaben» (Prof. Giovanni Maio) seine Beschränkung erfährt, war Thema der ersten Tagung im Jahr 2018. Der Initiator von «Minds in Medicine» Dr. Michael Holzapfel leitete sie ein mit Gregory Bateson und seiner Idee von «Mind» (vgl. Ökologie des Geistes). Mit «Et in Arcadia Ego» – Goethes Sehnsuchtsraum der vollendeten Sinnlichkeit – schlug er die Brücke zu den Sinnen, aber auch zum Resonanzraum des Südens, wie er im Tessin bereits zu erahnen ist. Ort der ersten Tagung war die Fondazione Eranos, wo sich in den dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts unter anderem C. G. Jung, der Naturphilosoph Friedrich Dessauer und der Physiker Erwin Schrödinger getroffen hatten. Als Gastredner referierte an der Tagung Prof. Iso Camartin zum Thema «Die Sinne cis und trans der Alpen» mit philosophischen Betrachtungen über die Sinnlichkeit. Er eröffnete den ideengeschichtlichen Hintergrund zu den Begriffen, welche als Motto die Tagung begleiteten: die Sinne, die Sinnlichkeit und der Sinn.
Mehr als Daten und Fakten
Klare Worte zur schwelenden Sinnkrise im Arztberuf fand Prof. Giovanni Maio vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg (D). Er erachtet Bewegungen wie «Minds in Medicine» als notwendig, weil Mediziner sich gegen die Degradierung und Inhaltsentleerung ihres Berufes zur Wehr setzen sollten. Die «funktionierende Medizin» habe zum Ziel, eine Effizienzsteigerung durch vorgefertigte Handlungsanweisungen anzustreben, welche die Austauschbarkeit der Heilberufe zur Folge habe. Reflexion im eigentlichen Sinne sei hierbei von den Medizinern nicht gefragt, es ginge zunehmend um Standardisierung. Medizin müsse jedoch denken, forderte Maio, sie müsse die aufoktroyierte Stromlinienförmigkeit durchbrechen. Wissenschaftlichkeit in der Medizin würde aktuell behauptet durch Algorithmen, repräsentiert durch vorgefertigte Entscheidungsbahnen, die durch die Digitalisierung unterfüttert würden. Ausreichend Daten zu sammeln würde Objektivität gewährleisten, so werde suggeriert. Die Herausforderung in der Medizin seien aber nicht die Fakten, sondern die Krankheit in ihrer Bedeutung für den Patienten. Diese Bedeutung sei erfassbar durch die Sinne: das Hören, Sprechen, Fühlen. Die Befunde stellten Herausforderungen dar. Wenn sie dem Patienten eröffnet würden, sei nichts mehr,
wie es war. Hier würden keine Algorithmen helfen. Medizin müsse die Not erkennen, die aus den Befunden für den Patienten resultierten. Eine Ansammlung von Handlungsschablonen aufgrund von Befunden sei «en vogue». Fälschlicherweise werde darin Einsparungspotenzial gesehen, und Reden gelte als Zeitverschwendung. Medizin solle aktuell reduziert werden auf eine Ansammlung von unoriginellen Fleissübungen. Die Medizin ginge induktiv vor, der Arzt müsse sich etwas ausdenken, müsse erwägen, wie man das Problem lösen könne. Problemlösungswissen würde heutzutage
abgewertet, doch man müsse sich die Freiheit bewahren, dieses Problemlösungswissen auszubilden. Gefordert sei ein Andenken gegen die Ideologien der Zeit. Zur Struktur beider Tagungen gehörten neben Vorträgen, Arbeitsgruppen und Diskussionen bewusst gesetzte sinnliche und sinnstiftende Pausen. So etwa Wanderungen um Ascona, ein Meditationsangebot oder eine Einladung zum Kreistanz in der Parklandschaft des Monte Verità, wo die zweite Tagung «Ökonomie versus Würde» im Jahr 2020 stattfand. Auch dies ein Ort geistigen Aufbruchs, wo sich um 1900 eine Gruppe Menschen der Idee verschrieben hatte, ein naturnahes Leben zu praktizieren, begleitet von sozialen Utopien, die später in Ernährung, Kleidung und Kunst ihren Niederschlag fanden. Die Tagung «Ökonomie versus Würde» Nach der Begrüssung durch Dr. Melitta Breznik und Dr. Michael Holzapfel stellte Dr. Breznik, unter dem Titel «Medical Profession Writing» verschiedene Bücher von Ärzten vor, die sich in den letzten 70 Jahren im deutsch- und englischsprachigen Raum mit ihrem «Arztsein» beschäftigt haben. Sie zitierte Texte aus Sterblich sein von Atul Gawande, Arzt und Patient von Joachim Bodamer sowie aus Bernhard Lowns Buch Die verlorene Kunst des Heilens. Alle Autoren haben sich kritisch mit unterschiedlichen Aspekten der «Verökonomisierung » der Medizin auseinandergesetzt. Dr. Michael Holzapfel erörterte in seinem Vortrag den Begriff der Würde aus philosophisch-historischer Sicht, von Pico della Mirandola bis Viktor von Weizäcker. Würde sei ein humanistischer Wert, der je nach Zeitgeist erst in der jeweiligen Situation entfaltet würde. Dr. Holzapfel konstatiert, dass mit der datengestützten Ökonomisierung und der zunehmenden Digitalisierung in der
Medizin die Gefahr einer Dissoziation von sinnlicher, prozesshafter, beziehungsgestalteter, narrativer, emotionaler und mentalisierender Integration bestünde.
Über die Würde im klinischen Alltag
Prof. Dr. Roger Schmidt, Abteilung für Psychosomatik, Kantonsspital St. Gallen, sprach über «Critical Incidences compromising Dignity». Es gebe eine Verleugnung der Würde im klinischen Alltag. Sie könne in der Medizin situativ verloren gehen und bliebe zu oft unerwähnt, in der Öffentlichkeit, aber auch bei den Beteiligten persönlich, etwa im Austausch der Medizinalpersonen. Wichtig sei, so Prof. Schmidt, sich über das Unerhörte und Unsagbare austauschen zu können. Das brauche Zeit und Raum und nicht ökonomischen Druck. Würde im Umgang mit sich selbst sei im Arztberuf
vonnöten, die Balance zwischen selbstbestimmter Verantwortung und Überforderung. PD. Dr. Ina Hinnenthal, Chefärztin der Psychiatrie in Imperia, Ligurien, berichtete von absurden Einschränkungen des medizinischen Alltags in unterschiedlichen Einrichtungen, für die sie zuständig sei. Michaela Forster, MAS in Palliative Care, vom Kantonsspital St. Gallen sprach über die «Dignity Therapy» und wie sie im Alltag der Palliativabteilung praktische Anwendung findet. Ein Ansatzpunkt sei, das Leben zu würdigen, bevor es zu Ende gehe, etwa indem man Menschen dabei helfe, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben.
Fünf Charakteristika der menschlichen Würde
Prof. Giovanni Maio sprach in seinem Vortrag darüber, dass Medizinerinnen und Mediziner in der ärztlichtherapeutischen Situation als Behandelnde dazu angehalten seien, auf Fragen des Patienten eine angemessene Antwort zu geben. Die «Angemessenheit» müsse fünf Charakteristika der menschlichen Würde berücksichtigen: Unverfügbarkeit, Unersetzbarkeit, Unverwechselbarkeit, Unvertretbarkeit und Uneinholbarkeit. Was wir in der modernen Medizin betrieben, sei die Reduktion des «Kosmos des Anderen» auf das, was wir schon kennen – zum Zweck der Handhabbarkeit. Es
entstehe ein «Diktat der Stromlinienförmigkeit». Diese würde in den standardisierten Abläufen gefordert. Prof. Maio entfaltete auch fünf konstituierende Merkmale des Menschseins im
medizinischen Kontext: Singularität, Situativität, Perspektivität, Kontextualität, Prozessualität. Es bestünde eine Singularität für jeden Menschen, selbst bei gleicher Erkrankung. Gerade hier
gäbe es die Unterscheidung zwischen Krankheit und Kranksein, das nur in seiner Singularität begriffen werden könne, ansonsten würde man von einem Reparaturparadigma ausgehen. Mit Situativität sei die Situation der Arzt-Patienten-Begegnung gemeint, die immer einzigartig und neu sei und im nächsten Moment wieder anders sein könne. Hier benötige die Patientin oder der Patient eben Hilfe zur Bewältigung der speziellen Situation. Mit der Perspektivität solle ausgedrückt werden, dass es notwendig sei, unterschiedliche Perspektiven zuzulassen, der Patient, aber auch der Arzt hätte seine eigene Perspektive auf das Geschehen. Kontextualität wiederum beinhalte Komplexizität. Es gäbe immer einen komplexen Kontext des Krankseins, der berücksichtigt werden müsse,
denn er habe letztendlich grossen Einfluss auf die Erkrankung. Prozessualität beinhalte die Wandelbarkeit, wobei es gelte, nicht nur eine Aktion zu verfolgen, sondern Interaktion zu
ermöglichen. In der Diskussion erläuterte Prof. Maio, dass Algorithmen kein «Beurteilungsvermögen» bei der Vielschichtigkeit der Situation des Krankseins haben könnten, dafür brauche es den Arzt mit seiner Erfahrung. Damit in Zusammenhang stehe auch, dass nicht nur zweckrationalistisches Denken erforderlich sei, sondern hermeneutisches, den Standpunkt des Patienten einnehmendes,
nicht induktives, sondern deduktives Denken mit der Frage, was passend sei. Medizin als Dienstleistung und der Patient als «Kunde» lassen den Patienten allein in seiner Not, denn dieser könne in Wahrheit gar nicht wirklich wählen, weil immer ein nicht zu leugnendes Wissensgefälle zwischen Ärztin oder Arzt und Patientin oder Patient bestehe.
Schweizerische Ärztezeitung, 10.03.2021. Artikel als PDF.
Haben Sie Fragen zu dieser Thematik?
Wünschen Sie mehr Informationen?
Können wir Ihnen als Betroffene oder Angehörige Hilfe anbieten?
Rufen Sie uns an +423 238 85 00
oder schreiben Sie uns gerne jederzeit office@clinicum-alpinum.li.
Wir sind für Sie da.