Psychiater Marc Risch: «Sechs bis neun Medikamente sind durchaus die Regel»

Rund neun Medikamente erhalten Pflegeheimbewohner in der Schweiz im Schnitt pro Tag. Weit verbreitet sind auch Psychopharmaka, die gerade im Alter zu gravierenden Nebenwirkungen führen können. Psychiater Marc Risch plädiert dafür, Medikamentenlisten häufiger zu hinterfragen.

«Volksblatt»: Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Helsana zeigt, dass gerade Personen in Pf legeheimen durchschnittlich rund neun Medikamente am Tag schlucken, stark verbreitet sind auch Psychopharmaka wie Beruhigungsmittel oder Schlafmittel. Ist das alarmierend?

Marc Risch: Ja, durchaus. Oftmals nehmen Patienten mit zunehmendem Alter Medikamente gegen körperliche Leiden ein, insbesondere um Folgeschäden zu verhindern – Cholesterinsenker, Blutverdünner, Präparate für einen passenden Blutdruck oder die Regulation des Blutzuckers – auch Schmerzmittel, wenn beispielsweise eine mögliche Operation nicht möglich ist. Werden dann psychotrop wirksame Substanzen zusätzlich eingenommen, beispielsweise aufgrund von Schlafstörungen, Depressionen oder Angstzuständen, dann kann es problematisch werden. Denn durch diese Kombination steigen die möglichen Nebenwirkungen exponentiell an. Psychopharmaka sollten daher bei älteren Menschen grundsätzlich zurückhaltend eingesetzt werden. Die Fachmeinung ist klar: Gerade bei älteren Menschen muss die Dosierung beachtet werden, da der Organismus solche Substanzen nicht mehr so rasch abbaut. Auch das Gehirn reagiert anders. Aus diesem Grund wird bei älteren Menschen mit sehr viel niedrigeren Dosierungen gearbeitet. Ebenso ist es eine Grundregel, möglichst wenig Medikamente einzusetzen.

Wie wirken denn solche psychotropen Substanzen?

Psychopharmaka können sehr gut wirken, wenn man sie zielgerichtet und nach Abwägung der Wirkung und Risiken einsetzt. Das heisst, dass die wesentlichen Symptomenkomplexe Angst, Depression, Agitation, Verwirrtheit und Schmerz im Fokus sind. Wichtig ist auch, dass nicht alle Menschen gleich auf Psychopharmaka reagieren – paradoxe Reaktionen kommen gerade bei Benzodiazepinen, die tatsächlich häufig verabreicht werden und bei Psychiatern sehr unbeliebt sind, vor. Zudem sind Medikamente nur ein kleiner Teil der Behandlungsstrategien unseres Fachgebietes – viel wichtiger sind Aufmerksamkeit, menschliche Nähe, persönlicher Zuspruch durch das Umfeld, soziale Teilhabe bis ins hohe Alter und der unermüdliche Support der Angehörigen wie auch der ambulanten und stationär tätigen Fachkräfte der Pflege.

«Wir sind mit Medikamentenlisten konfrontiert, die schon zu denken geben.»

Wenn Wirkungen und Nebenwirkungen so schwer zu kalkulieren sind, wie kommt es dann, dass gerade ältere Menschen derart viele Pillen schlucken müssen?

Unsere Erfahrung zeigt, dass die Zahlen hierzulande ähnlich sind, wie in der Studie aus der Schweiz angegeben. Sechs bis neun Medikamente sind durchaus die Regel. In absoluten Zahlen ist das natürlich viel. Gerade ältere Patienten haben oft mehrere Erkrankungen. Dazu gehören beispielsweise Prostata-Probleme, Herz-Kreislauf-Schwächen oder Diabetes, und eben auch neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Im Laufe einer Krankengeschichte kumulieren sich die Medikamente und auch die Zahl involvierter Ärzte nimmt zu. Die Psychiater kommen meistens als Letzte ins Spiel. Oft erst, wenn sich das Verhalten ändert und ein Patient psychisch auffällig wird. Wir sind dann mit Medikamentenlisten konfrontiert, die durchaus zu denken geben. Da ist eine enge Absprache mit den bereits involvierten ärztlichen Behandlern nötig – sowohl was die Anzahl Medikamente betrifft als auch die Höhe der Dosierung. Häufig wird Patienten bei jedem neuen Symptom ein zusätzliches Medikament verschrieben. Und so kann es natürlich durchaus zu sehr problematischen Kombinationen kommen. Gerade auch deshalb ist es in jedem Einzelfall wichtig, die ärztliche Empfehlung mit dem Patienten, den Angehörigen und den Fachkollegen der Pflege einem laufenden kritisch-hinterfragenden Prozess zu unterziehen.

«Häufig wird den Patienten bei jedem neuen Symptom ein zusätzliches Medikament verschrieben.»

Müssten sich da die Ärzte besser austauschen beziehungsweise genauer hinschauen?

Ja, meiner Meinung nach sollten die Medikamentenlisten häufiger kritisch hinterfragt werden. Der fachkollegiale Austausch, vor allem aber auch der Dialog mit dem betagten Menschen und der Pflege, das sind die wesentlichen Erkenntnisquellen für einen medizinischen Entscheid beziehungsweise eine Empfehlung. Schliesslich können gewisse Medikamente nach einiger Zeit auch wieder abgesetzt oder niedriger dosiert werden. Ein Organismus verändert sich im Laufe der Zeit. Gerade bei demenziellen Prozessen ist es wichtig, dass im Krankheitsverlauf bestimmte Medikamente verringert werden, um das Gehirn nicht unnötig zu belasten. Sonst besteht die Gefahr, ein Delir, also einen Verwirrtheitszustand, auszulösen. Da ist es wichtig, dass wir Ärzte – also Hausärzte, Internisten, Neurologen, Urologen, Zahnärzte und Psychiater – also alle, die einen Patienten behandeln, uns gut absprechen. Hier spielen auch die Fachpflege und das Umfeld des Patienten eine wichtige Rolle, denn sie können am besten erkennen, ob sich das Verhalten eines Patienten verändert und daraus ein Handlungsbedarf abgeleitet werden sollte. Im Rahmen von Cardex-Visiten können Zustandsveränderungen am besten analysiert werden. Pflegefachpersonen und Ärzte beantworten dabei gemeinsam Fragen wie: Wie geht es ihm? Wie schläft sie? Hat er Schmerzen? Welche Medikamente nimmt sie? Sind diese noch richtig dosiert? Und: Braucht es das Medikament noch?

Laut der Helsana-Studie ist aber nicht nur die Anzahl der Medikamente, die Patienten verabreicht bekommen, sondern auch die Art der Medikamente bedenklich. Viele Patienten nehmen beispielsweise Benzodiazepine, kurz «Benzos» genannt, das sind kurzwirksame Angstlöser, die süchtig machen können.

Bei den Psychopharmaka, insbesondere denjenigen mit kurzen Wirkzeiten, ist es tatsächlich so, dass die kombinierte Anwendung mit anderen Substanzen Nebenwirkungen verursachen kann. Aus diesem Grund sind in der Psychiatrie die Benzoediazepine selten die Mittel der Wahl. Es gibt seit Jahren viel modernere Medikamente, die, richtig eingesetzt, fast keine Nebenwirkungen verursachen. Die klassischen «Benzos», die heute leider auch bereits auf Schulhöfen unter Jugendlichen verkauft werden, sollten von älteren Patienten nur in Ausnahmefällen und nie als Langzeittherapie eingenommen werden, weil sie beispielsweise die Gefahr von Stürzen erhöhen können. Stürze im Alter können zu schweren Verletzungen wie Oberschenkelhalsbrüchen führen, was wiederum die Selbstständigkeit dieser Menschen extrem einschränkt – diesen Gefahrenkreis müssen wir im Auge behalten.

Und trotzdem zeigt diese Studie, dass solche «Benzos» bei alten Menschen erschreckend weit verbreitet sind.

Diese Medikamente werden tatsächlich in vielen Fachgebieten der Medizin als kurzwirksame Präparate, z. B. zur Angstlösung vor Operationen etc. verschrieben. Eigentlich sollten diese Medikamente nur als Reserve, sprich nur für den Bedarfsfall, verschrieben werden. Häufig ist es so, dass Benzoediazepine auf Rezept abgegeben werden, am gefährlichsten sind in diesem Zusammenhang Dauerrezepte, weil sich dadurch der Patient einer regelmässigen Kontrolle der Bezüge eher entziehen kann. Aus diesem Grund dürften Benzoediazepine meines Erachtens nur in Kleinpackungen abgeben werden.

Werden eigentlich die Patienten auch in den Pflegeheimen von den Hausärzten weiterbetreut oder von speziell ausgebildeten Gerontologen (Altersmediziner)?

Von den Hausärzten, und es ist auch gut und wichtig, wenn der Arzt des Vertrauens in einem Pflegeheim seine Patienten weiterbetreut. Da leisten Hausärzte wirklich sehr viel. Sie besuchen ihre Patienten oft noch nach Praxisschluss oder am Wochenende. Aber was machen wir in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren? Je älter wir werden, je mehr wird es Menschen mit Demenz und psychischen Verhaltensauffälligkeiten geben. Woher nehmen wir dann die entsprechenden allgemein-internistisch und psychiatrisch ausgebildeten Fachärzte? Schweizweit gibt es bereits heute nur sehr wenige Alterspsychiater und erfahrene Geriater, da es dafür eine sehr lange und teure Ausbildung braucht. Mit der Tarmed-Logik haben wir zudem ein systemisches Problem, da Tarmed eher den Einsatz von technischen Leistungen im Vergleich zur ärztlichen Beratung und Begleitung belohnt. Künftig gute Leute zu finden, wird sicher zu einer grossen Herausforderung werden. Im Pflegebereich hingegen sind wir besser aufgestellt, da bildet beispielsweise die LAK viele Fachkräfte aus. Diese werden dringend benötigt.

Psychische Probleme sind nicht nur in Alters- und Pflegeheimen ein Thema, sondern auch für Menschen, die ihre Angehörigen zu Hause betreuen, eine enorme Herausforderung.

Ja, das ist ein sehr wichtiges, oft vergessenes Thema. Angehörige, die einen geliebten Menschen mit zunehmender Pflegebedürftigkeit begleiten, leisten enorm viel. Vielfach sind die Betreuenden auch beruflich oder privat stark eingespannt. Ich habe häufig gerade Patientinnen in meiner Praxis, die selber leiden, weil sie derart mit der Pflege ihrer Angehörigen absorbiert, zeitlich ausgefüllt und zuweilen überfordert sind. Hier kommt es oft zu Rollenkonflikten. Angehörige dürfen nicht das Gefühl haben, in die Rolle der Pflegerin oder Therapeutin schlüpfen zu müssen. Das passiert zwar zwangsläufig, aber man soll so gut wie möglich in der Hauptrolle Tochter, Sohn oder Ehepartnerin bleiben. Und sie sollen sich wirklich nicht scheuen, schon frühzeitig niederschwellige Hilfe, wie Dienstleistungen der Familienhilfe oder Ferienbetten in Pflegeheimen, in Anspruch zu nehmen.

Gerade Ehepartner haben oft das Gefühl, dass sie das selber schaffen müssen und dann auch eine gewisse Hemmschwelle, Angebote in Anspruch zu nehmen.

Häufig schauen Angehörige bei Verhaltensänderungen zu lange weg und halten viel aus beziehungsweise kompensieren die zunehmenden Einschränkungen des Betroffenen. Dabei sollten Betroffene als auch Angehörige, wenn sie Verhaltensänderungen feststellen, frühzeitig zum Hausarzt gehen. Zum Beispiel, wenn Menschen plötzlich «dünnhäutiger» oder ängstlicher werden, mit dem Durchschlafen Probleme bekommen. Dann ist eine internistische Abklärung wichtig. Denn viele Probleme, beispielsweise auch Vergesslichkeit oder Verwirrtheit, können eine körperliche Ursache haben – Flüssigkeits- und/oder Vitaminmangel beispielsweise oder eine Fehlfunktion der Schilddrüse, wie auch eine Störung im Säure-Basenhaushalt. Das kann zu Symptomen wie bei einer Demenz führen. Wenn man das nicht unter Einbezug aller Befunde abklärt und zu schnell zu Medikamenten greift, kann es kontraproduktiv sein.

«Wenn man (…) zu schnell zu Medikamenten greift, kann das kontraproduktiv sein.»

Eine umfassende Diagnostik braucht jedoch Zeit – Zeit, die viele Ärzte in der Praxis nicht haben.

Tatsächlich ist es so, dass Ärzte immer weniger Zeit für die Diagnostik und Therapieplanung aufwenden können. Das liegt an systemischen Faktoren. Dennoch entspricht es nicht meinem Eindruck, dass Ärzte die Diagnosestellung vernachlässigen – subjektiv kann aber beim Patienten der Eindruck entstehen, dass Ärzte immer weniger Zeit für sie haben. Wenn wir die Versorgung mit Hausärzten, Psychiatern und Altersmedizinern in Zukunft sicherstellen wollen, müssen die Verantwortlichen diese Thematik ernst nehmen.

Medikamentenliste

Bei diesen «Medis» ist Vorsicht geboten
Fast 42 Prozent der Pflegeheimbewohner in der Schweiz nahmen laut Helsana-Studie ein Neuroleptikum: Am häufigsten eingesetzt werden Quetiapin (Markenname: Seroquel), aber auch Risperidon (Risperdal), Haloperidol (Haldol) oder Pipamperon (Dipiperon).

Mehr als 40 Prozent aller Pflegeheimbewohner bezogen mindestens ein Beruhigungs- bzw. Schlafmittel. Darunter hauptsächlich die «Benzos» Lorazepam (Temesta), Oxazepam (Seresta), Alprazolam (Xanax), Bromazepam (Lexotanil) oder Diazepam (Valium). Weitere bei Schlafstörungen eingesetzte Wirkstoffe sind die Z-Drugs Zolpidem (Stilnox) und Zopiclon (Imovane).

Im Bild: Marc Risch, Psychiater und Stiftungsrat der LAK: «Die klassischen ‹Benzos›, die heute leider auch bereits auf Schulhöfen unter Jugendlichen verkauft werden, sollten von älteren Patienten nur in Ausnahmefällen und nie als Langzeittherapie eingenommen werden, weil sie beispielsweise die Gefahr von Stürzen erhöhen können.»

Text: Doris Quaderer, Foto: ZVG/Sven Beham

Interview als PDF
(Liechtensteiner Volksblatt)

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