ADHS – (k)eine Modediagnose?

«Ich lese seit zehn Minuten in der Tageszeitung. Während dieser Zeit habe ich gleichzeitig schon zweimal in der Küche ein Glas Wasser geholt, drei Nachrichten via WhatsApp gesendet, durch die offene Balkontüre gehört wie meine Nachbarin am Telefon mit jemandem spricht, einen wunderschönen Falter am Fenster bewundert, daran gedacht, was ich am Mittag kochen könnte und – oh jemand hat mir via WhatsApp schon geantwortet – und wieder versucht mich auf einen Zeitungsartikel zu konzentrieren.»
Falls es anstrengend ist, den obigen Abschnitt zu lesen, es ist viel anstrengender tatsächlich so zu sein!

Was ist ADHS?

Die psychiatrische Diagnosefindung kann – stark vereinfacht, aber dem besseren Verständnis halber – mit dem Legospielen verglichen werden. Die Legosteine stellen Einzelsymptome (z. B. Antriebslosigkeit, Einschlafstörung, Traurigkeit, etc.) dar, die auf verschiedene Arten zusammengebaut, zu unterschiedlichen Syndromen und schliesslich zu einer Diagnose, wie beispielsweise dem «ADHS» führen können. Beim ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom – früher POS: psychoorganisches Syndrom) sind die zentralen Diagnose-Bausteine:
– die «Aufmerksamkeitsstörung»,
– die «Störung der Aktivität» (Hyperaktivität) und
– die Beeinträchtigung der Impulskontrolle (Impulsivität)
– die durch grössere und kleinere Neben-Bausteine ergänzt oder «über-baut» werden können.

Zappelphilipp, Suppenkasper, Struwwelpeter und Max und Moritz

Um sich dem «Wesen» des ADHS anzunähern und zu verstehen, wie sich dieses Syndrom im Krankheitslängsverlauf von der Kindheit über die Adoleszenz bis ins Erwachsenenalter verändern kann, sind Protagonisten aus den Werken Wilhelm Buschs, der Gebrüder Grimm und weiterer «Märchenbücher» hilfreich. Zappelphilipp, Suppenkasper, Max & Moritz und Struwwelpeter repräsentieren Teilaspekte des ADHS in eindrücklicher Art. Doch was ist aus ihnen geworden, als sie sich aus dem typischen Legospielalter verabschiedeten? Wir wissen es – mit Ausnahme von Max und Moritz, die aufgrund ihres Verhaltens tragisch in der Getreidemühle endeten und ihre Fähigkeiten leider nicht sinnstiftend umzusetzen vermochten – nicht. Dass aus dem gleichzeitig sympathischen, aber auch anstrengenden» Zappelphilipp -, der in seiner Kindheit weniger dafür berühmt war, schöne, gleichfarbige Legotürme zu bauen – sicher nie ein tapferes Schneiderlein oder ein besonnener Prinz werden würde, war abzusehen. Seine Rastlosigkeit und Impulsivität, aber auch seine Loyalität, Liebenswürdigkeit und der Hang zu Aussenaktivitäten prädestinierten ihn vielmehr für andere «Rollen»: die eines Zoodirektors oder eines Robin Hood vielleicht? Kein Märchen ist, dass ADHS neurobiologische Ursachen hat, die durch psychosoziale Faktoren in unterschiedlichem Masse beeinflusst werden. Mit rund 5 % gehört ADHS zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen.

Langer Leidensweg bis zur Diagnosestellung

Wird ein ADHS erst spät bzw. im Erwachsenenalter diagnostiziert, haben die Betroffenen oft schon einen langen Leidensweg hinter sich. So macht der «Lautsprecher» im Kopf von Menschen mit ADHS nie Pause: nicht im Meeting, nicht im Bus, nicht beim Einschlafen – egal wie sehr sie sich bemühen. Oft suchen Betroffene den Fehler zuerst bei sich, zweifeln an sich und verwenden all ihre Energie darauf, sich anzupassen und «normal» zu funktionieren. Dies ist ein enormer Kraftakt und so ist es nicht verwunderlich, dass sich früher oder später eine Erschöpfung breitmacht. Gleichzeitig wächst die Unzufriedenheit mit sich selbst, das Selbstvertrauen sinkt drastisch. Schlussendlich ist der Antrieb so verringert, dass Betroffene weder Lust noch Interesse haben, irgendetwas zu machen. Denn überall schwingt das Gefühl mit, dass alle anderen scheinbar alles auf die Reihe kriegen und man selbst unfähig ist, die banalsten Kleinigkeiten zu regeln.

Durch diese Erfahrungen tritt neben den belastenden ADHS-Symptomen oft auch noch eine depressive Störung auf. Genau solche depressiven Verstimmungen, verminderte Stresstoleranz, impulsive Wutausbrüche, Einschlafstörungen, Unfähigkeit zur Ruhe, etc. sind die Folge und oftmals
Zuweisungsgründe zu Fachleuten der Erwachsenen-Psychiatrie

Arbeiten mit ADHS

Aus Kindern mit ADHS werden Erwachsen mit ADHS. Oft wird vergessen, dass bei zirka der Hälfte der Zappelphilipps und Struwwelpeters ADHS-typische Symptome bis ins Erwachsenenalter überdauern oder aber in neuer Ausprägung im Erwachsenenalter erst wirksam bzw. auch subjektiv als störend und insofern krankheitswertig erlebt werden.
Dann stehen oftmals Schwierigkeiten im Selbstmanagement während der Ausbildung oder am Arbeitsplatz, Konzentrationsprobleme, mangelnde Affektkontrolle, die in der Kindheit und Adoleszenz «gerade noch» akzeptabel waren, jetzt aber ein im Vordergrund bzw. in der Kritik.
«Mein Kopf fühlt sich oft an, als sei da ein Lautsprecher installiert worden, der wie die Sprachausgabe beim Smartphone alles laut vorliest was er sieht – wirklich alles. Unabhängig ob ich im Grossraumbüro sitze, in einer Bar kellnere oder vor einer Klasse unterrichte», so schildert eine erwachsene Betroffene ihre Schwierigkeiten im Berufsleben.
Mit der Diagnosestellung fällt ergibt dann plötzlich alles Sinn: «Das Problem ist nicht, dass ich unfähig bin oder mich zu wenig anstrenge, sondern das Problem ist, dass diese Arbeitsumgebung für mich einfach nicht funktioniert wie für andere».

Was tun?

Lesen Sie wieder einmal Wilhelm Busch und erfreuen Sie sich am Positiven seiner
Figuren. Denn ADHS ist viel mehr als nur Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität. ADHSler sind in der Lage überragende Leistungen zu erbringen. Sie sind alles andere als dumm – auch wenn es bisweilen so erscheint, weil sie vergesslich oder schusselig wirken. Dafür kommen sie durch ihr offenes und flatterhaftes Denken oft auf Lösungen, die andere nicht finden. In Bereichen, in denen sich Menschen mit ADHS gut auskennen, können sie meist viel schneller Zusammenhänge erkennen und treffende Entscheidungen fällen als gleich intelligente Menschen ohne ADHS. Manch besonders guter Notfallarzt hat eine ADHS.
Generell funktionieren ADHSler in Ausnahmesituationen deutlich besser als der Durchschnitt. Zudem ist die Hilfsbereitschaft meist erhöht.
Insgesamt sind Kreativität, Erfindergeist und innovatives Verhalten bei Menschen mit ADHS im Vergleich zu gleich intelligenten Menschen ohne ADHS erheblich ausgeprägter.

Nehmen Sie also mal wieder die Kiste mit Legosteinen hervor und bauen sie einen
nicht ganz so perfekten Turm. Oder: Fragen Sie eine Fachperson, die ihren
ADHS-Verdacht nicht nur bestätigen, sondern zusammen mit Ihnen die hindernden,
aber auch verborgenen, wertvollen Steine zu erkennen vermag – denn: Wir alle sind
viel mehr als die Summe der erkennbaren Symptome.

Dr. med. Marc Risch

Zum Autor
Dr. med. Marc Risch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er studierte Humanmedizin in Zürich und Innsbruck und schloss sein Studium in Innsbruck mit einem Doktorat ab. In den weiteren Jahren absolvierte er vertiefende Ausbildungen unter anderen in den Bereichen Krisenintervention, wo er zusammen mit seiner Frau als Ausbildner für das Rote Kreuz tätig war. Seit 2012 führt der Psychiater seine eigene Praxis in Schaan und arbeitet als Chefarzt im Clinicum Alpinum.

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