Alexithymie oder Gefühlsblindheit

Alexithymie – wenn man Gefühle nicht lesen kann

Wenn jemand die eigenen Gefühle und auch die anderer nicht gut beobachten und beschreiben kann, spricht man von Alexithymie. Aus altgriechischen Wörtern zusammengefügt bedeutet dieser Fachbegriff „keine Worte für Gefühle“, im Deutschen spricht man oft auch von „Gefühlsblindheit“ oder „emotionaler Blindheit“. Zum Teil wird fälschlicherweise von „Gefühlskälte“ gesprochen und wie etwa auch bei Anhedonie in Frage gestellt, ob die Betroffenen überhaupt Gefühle empfinden können. Doch woher kommt Alexithymie, was empfinden die Betroffenen und wie kann der Umgang damit erleichtert werden?

Alexithymie ist keine Krankheit

Ursprünglich ging man davon aus, dass es sich bei Alexithymie um eine Persönlichkeitsstörung handelt, doch mittlerweile weiß man, dass es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal handelt, das mehr oder weniger stark ausgeprägt sein kann. Schätzungen zufolge weisen es bis zu 10% der erwachsenen Bevölkerung auf. Sie haben Probleme damit, die eigenen Gefühle und auch die anderer wahrzunehmen und zu verbalisieren.

In gewissen Situationen, etwa in herausfordernden Jobs, kann es auch von Vorteil sein, einfach rationale Entscheidungen treffen zu können, ohne sich von Gefühlen beeinflussen zu lassen. Doch jemand, der sehr alexithym ist, nimmt Stress, Trauer und vieles andere nur durch die körperlichen Symptome wie Bauchschmerzen, Schweißausbrüche oder Herzklopfen wahr, und bringt diese gar nicht mit der Situation in Verbindung. Er tut sich daher auch schwer damit, Stresssymptome zu erkennen und zu bekämpfen. Personen mit stark ausgeprägter Gefühlsblindheit können auch bei anderen deren Gefühle schwer einordnen und merken oft nicht, wenn es anderen nicht gut geht.

Gefühlsblinde Menschen haben ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen, da sie nicht erklären können, wie sie sich fühlen. Es können psychosomatische Erkrankungen wie Essstörungen, Suchterkrankungen, Angsterkrankungen oder Depressionen entstehen, die schwer zu diagnostizieren sind, weil den Betroffenen die psychische Komponente nicht bewusst ist.

 

Haben Menschen mit Alexithymie keine Gefühle?

Oft wird hinterfragt, ob jemand, der kaum Gefühle zeigt, gefühllos ist oder weniger ausgeprägte Gefühle hat. Personen mit Gefühlsblindheit haben sehr wohl Gefühle, es fehlt ihnen allerdings der Zugang dazu! Sie zeigen in der Regel auch weniger Gestik und Mimik, was das Gegenüber häufig irritiert. Der oft synonym verwendete Begriff „Gefühlskälte“ ist aber falsch, da die Gefühle vorhanden sind. Die meisten Personen mit emotionaler Blindheit wollen nicht auffallen und auch die Gefühlswelt anderer Menschen verstehen, sie tun sich nur schwer damit. Um nicht anzuecken, lernen viele mit der Zeit, Gefühlsäußerungen des Umfelds zu kopieren, d.h. sie lernen, wann es angemessen ist, zu lachen oder zu weinen.

 

Wie Alexithymie entsteht

Es dürfte eine genetische Veranlagung für Alexithymie geben, doch sie entsteht durch eine Vernachlässigung in der Kindheit oder spätere traumatische Erlebnisse. Babys und Kleinkinder, deren Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden und die nicht lernen, Gefühle wahrzunehmen und zu benennen, entwickeln keinen Zugang zu ihren Gefühlen. Traumatische Erlebnisse wiederum können dazu führen, dass Personen sich vor unaushaltbaren Emotionen schützen müssen und daher quasi verlernen, ihre Gefühle wahrzunehmen.

 

Den Umgang mit Alexithymie erlernen

Für die Feststellung von Alexithymie gibt es Fragebögen wie den TAS-20 (Toronto Alexithymiae Scale), um die Ausprägung der Gefühlsblindheit festzustellen. Grundsätzlich muss Gefühlsblindheit nicht behandelt werden. Aber wenn Personen, die diese aufweisen, darunter leiden oder psychosomatische Erkrankungen in Zusammenhang damit auftreten, ist eine Behandlung anzuraten. Auch wenn eine Paarbeziehung darunter leidet, kann eine Therapie dabei helfen, den Partner besser zu verstehen und Zugang zu den eigenen und deren Emotionen zu finden. Besonders empfohlen werden gruppentherapeutische Zugänge, die es ermöglichen, sich Nähe- und Distanzerfahrungen bewusst zu machen und Ausdrucksmöglichkeiten für Gefühlzustände zu entwickeln.

Dr. med. Marc Risch

Zum Autor
Dr. med. Marc Risch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er studierte Humanmedizin in Zürich und Innsbruck und schloss sein Studium in Innsbruck mit einem Doktorat ab. In den weiteren Jahren absolvierte er vertiefende Ausbildungen unter anderen in den Bereichen Krisenintervention, wo er zusammen mit seiner Frau als Ausbildner für das Rote Kreuz tätig war. Seit 2012 führt der Psychiater seine eigene Praxis in Schaan und arbeitet als Chefarzt im Clinicum Alpinum.

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