Das Gefühl, neben sich zu stehen, hat fast jeder schon einmal verspürt. Auch das Erlebnis, dass einem der eigene Körper, die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen fremd vorkommen, ist nichts Ungewöhnliches. Wenn dieser Zustand allerdings anhält, spricht man im Fachjargon von „Depersonalisation“ – einem ernstzunehmenden Krankheitsbild, das behandelt werden muss. Da Depersonalisation als Begleiterscheinung anderer Krankheiten wie Depression auftreten kann und oft nicht gleich richtig diagnostiziert wird, haben Betroffene meist einen langen Leidensweg vor sich bis sie richtig behandelt werden.
Was sind die typischen Anzeichen einer Depersonalisation?
– Die eigenen Gefühle und die Identität werden als fremd wahrgenommen (was aber von einer allgemeinen Gefühlsblindheit unterschieden werden muss). Das Gefühl der Empfindungslosigkeit teilen sie etwa mit Patienten mit Depressionen.
– Außerkörperliches Erleben: Eigene Körperteile werden als fremd angesehen, eigene körperliche Schmerzen oft von ‚weit weg‘ betrachtet, auch körperliche Symptome wie Herzrasen oder Angstschweiß werden von außen wahrgenommen.
– Der gesamte Alltag erscheint dadurch unwirklich, etwa, als würde man sich in einer Traumwelt bewegen.
– Die sogenannte Realitätsprüfung bleibt zugleich aber intakt, d.h. im Unterschied zur Schizophrenie z.B. ist Patienten bewusst, dass etwas nicht stimmt.
– Da die Patienten sich selbst in ihrem Zustand beobachten, geht Depersonalisation oft mit der Angst einher, die Kontrolle zu verlieren und verrückt zu werden.
Depersonalisation – der schwierige Weg zur Diagnose
Am Anfang sind die Symptome oft sehr unspezifisch, Betroffene können nur ein allgemeines Unwohlsein beschreiben und suchen daher meist den Hausarzt auf. Wenn es auch zu Sehstörungen kommt, folgt oft der Gang zum Augenarzt. Betroffene fürchten oft, nicht ernstgenommen zu werden, wenn sie ihre Symptome schildern, da ihnen bewusst ist, dass diese von der ‚normalen‘ Wahrnehmung abweichen. Ein sensibler Umgang mit der Sprache ist daher in der Behandlung der Patienten entscheidend, um ihnen diese Ängste zu nehmen.
Depersonalisation ist nach ICD 10 eindeutig von anderen Krankheiten abgegrenzt, dennoch wird sie zum Teil falsch diagnostiziert, z.T. als Schizophrenie, obwohl keine Halluzinationen und keine Vorstellungen der Fremdbeeinflussung vorhanden sind. Auch wird sie relativ selten diagnostiziert, obwohl Studien zufolge bis zu einem Prozent der Bevölkerung daran leiden. Das liegt auch daran, dass sie als Begleiterscheinung anderer Krankheiten auftreten kann.
Depersonalisation als Symptom?
Depersonalisation kann etwa als Begleiterscheinung von Angststörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, bei Depressionen aber auch bei Erkrankungen wie Migräne oder Epilepsie auftreten – damit stellt sich immer auch die Frage, welche Erkrankung zuerst aufgetreten ist. Erschwert wird die Diagnose oft durch die Annahme, es müsste sich bei der Depersonalisation um ein Symptom handeln, nicht um die Krankheit selbst. Bei der Suche nach der ‚eigentlichen‘ Krankheit wird dann nicht gezielt abgefragt, ob eine Ich-Störung vorliegen könnte und es wird die vermutete Grunderkrankung behandelt, was die Symptome der Depersonalisation noch verstärken kann.
Die Unterscheidung zur Derealisation
Während die Depersonalisation die Entfremdung vom Selbst ist, ist die Derealisation die Entfremdung der Umwelt gegenüber. Auch bei dieser kommt es zu einem Gefühl der Unwirklichkeit, die Umgebung wird als fremd und verzerrt wahrgenommen. Auch bei der Derealisation ist ein klares Bewusstsein über die veränderte Wahrnehmung und eine Krankheitseinsicht vorhanden.
Was löst eine Depersonalisation aus?
Kurze Depersonalisationserfahrungen machen Studien zufolge bis zu 70% aller Menschen mindestens einmal im Leben durch, sie können von Erschöpfung, Müdigkeit, Stress oder Drogeneinfluss (etwa durch Cannabis) ausgelöst werden. Auch in Notsituationen, die als lebensbedrohlich empfunden werden, kann es zu dieser Distanzierung von der Situation kommen.
Für Depersonalisationsstörungen, d.h. anhaltende Depersonalisationen, gibt es keine gesicherten eindeutigen Auslöser wie Kindheitstraumata. Es zeigt sich lediglich bei einer großen Anzahl der Patienten im Verlauf der Therapie, dass sie das Verhältnis zu ihren Eltern in ihrer Kindheit als emotional distanziert wahrnahmen.
Wie lässt sich Depersonalisation behandeln?
Es gibt unterschiedliche Therapieansätze, aber noch keine eindeutig dafür zugelassenen Medikamente – Patienten sprechen individuell verschieden gut auf Therapien etwa mit Antidepressiva, Stromimpulsen oder Achtsamkeitsübungen an. Für die Betroffenen ist wichtig, die Veränderlichkeit ihres Zustandes wahrzunehmen: Dabei kann das Führen eines Symptomtagebuchs helfen, das ihnen oft erstmals aufzeigt, dass es zu Schwankungen und Veränderungen ihres Zustandes kommt, d.h., dass die Symptome nicht immer gleich stark sind.
Zum Autor
Dr. med. Marc Risch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er studierte Humanmedizin in Zürich und Innsbruck und schloss sein Studium in Innsbruck mit einem Doktorat ab. In den weiteren Jahren absolvierte er vertiefende Ausbildungen unter anderen in den Bereichen Krisenintervention, wo er zusammen mit seiner Frau als Ausbildner für das Rote Kreuz tätig war. Seit 2012 führt der Psychiater seine eigene Praxis in Schaan und arbeitet als Chefarzt im Clinicum Alpinum.
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