Auch wenn böse Zungen behaupten, die Psychiater hätten mit Burn-out und Erschöpfungsdepression einen neuen Wirtschaftszweig entdeckt: Eine Depression denkt sich niemand freiwillig aus. Es ist eine Zivilisationskrankheit, über deren Ausmass und Dunkelziffer lediglich Mutmassungen existieren. Die Weltgesundheitsorganisation WHO schätzt, dass jeder zehnte Mensch weltweit von Depressionen oder Angstzuständen betroffen ist. Der Bund geht davon aus, dass ein Drittel der Bevölkerung innerhalb eines Jahres mindestens einmal an psychischen Symptomen leidet, die behandelt werden müssten. Nur die Hälfte davon sucht jedoch therapeutische Hilfe.
Psychische Krankheiten gelten noch immer als schwer fassbar und waren lange mit gesellschaftlichen Tabus behaftet. Die unvollständige Datenlage im Bereich der Psychiatrie zeigt, wie schwer sich Politik und Wissenschaft mit der Erarbeitung verbindlicher Kriterien zur Einschätzung von Bedarf Augenmerk ein weiteres Mal auf den herrschenden Druck in den Führungsetagen richtete. Wauthiers Angehörige suchen noch immer nach Antworten. Ähnlich dürfte es zurzeit den Angehörigen und Geschäftspartnern des St. Galler Wirtschaftsanwalts Ernst Buob gehen, der sich in dieser Woche im Alter von 70 Jahren das Leben nahm.
Vor diesem Hintergrund scheint es nur zynisch, sich über Burn-out und Erschöpfung lustig zu machen.
Die Fragen, die sich in solchen Momenten stellen, kommen dann zu spät: Was plagte ihn so sehr? Was hat bei diesem Menschen zu einem Ausmass an Verzweiflung geführt, dass der Tod ein besserer Ausweg schien als alles andere? Was hätte ihm geholfen, hätte er sich helfen lassen? Vor diesem Hintergrund scheint es nur noch zynisch, sich über Burn-out und Erschöpfung lustig zu machen, auch wenn das nicht ins Weltbild vieler Arbeitgeber passt. Erschöpfung ist eine der Vorformen dieser Verzweiflung. In die Depression führen zwar viele Faktoren, aber ein respektvoller, achtsamer Umgang mit körperlichen und psychischen Ressourcen sollte bei keinem Menschen und in keinem Unternehmen zuunterst auf der Prioritätenliste stehen. Im Gegenteil. Die Produktivität wird sich langfristig nirgendwo erhöhen, in dem Arbeitsbelastung und Druck auf die Angestellten immer grösser werden. Auch das hat die WHO nachgerechnet. Ständige Erreichbarkeit und immer mobilere Arbeitsformen haben zwar Vorteile. Sie eignen sich aber nur für Arbeitnehmer, die sich auch abgrenzen können. Diese Fähigkeit wiederum wird nicht jedem in die Wiege gelegt. Hinzu kommt die fatale Botschaft, die heutigen Arbeitnehmern oft vermittelt wird: «Zur zeit braucht es dich ganz dringend, aber vielleicht braucht es dich auch schon bald gar nicht mehr.» Wem da nicht angst und bange wird, der hat ein dickes Fell.
Die Zeiten sind immer unsicher. Das ist nichts Neues. Es könnte aber Ziel eines gesellschaftlichen Fortschritts sein, die Akzeptanz nicht nur Minderheiten gegenüber zu erhöhen, sondern auch jenen 33 Prozent der Bevölkerung, die emotional oder psychisch weniger robust sind als die anderen. Dies ich vor der Zukunft fürchten. Die oft nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Die den Zugang zu sich selbst verlieren. Ein erster Schritt wäre, sich nicht mehr über sie lustig zu machen. Und dann muss man darüber nachdenken, wie es anzustellen ist, dass unsere Kinder zu möglichst gesunden, glücklichen und starken Erwachsenen reifen können. Das wäre die beste Prävention.
Text: Odilia Hiller
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(Ostschweiz am Sonntag)
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