Eine Depression ist eine Lebensschance

Depression geht alle an. Ein Interview mit Michaela Risch, VR-Präsidentin des Clinicum Alpinum, eine Klinik zur Behandlung von Stressfolgeerkrankungen.

Erschöpfungsdepressionen sind immer mehr Teil unserer Gesellschaft. Weshalb ist es überhaupt so weit gekommen?

Michaela Risch: Anders als noch vor Jahrzehnten ist heute vieles mit Unsicherheit verbunden. Jobunsicherheit, Mehrfachbelastungen, instabile Familienverhältnisse, die zunehmende Verstädterung: Gewisse Grundwerte, die früher emotionale Sicherheit boten, gehen verloren. Menschen, die Unsicherheiten erleben, reagieren häufig mit Angst. Chronifiziert diese Angst und kommen weitere negative Stressoren hinzu, kann sich relativ schnell ein depressives oder erschöpfungsdepressives Zustandsbild entwickeln.

Wie kann frühzeitig dagegen vorgegangen werden?

Das Wichtigste ist soziale Teilhabe sowohl im Berufs- als auch im Privatleben. Aber auch eine ausgewogene Ernährung, regelmässige Bewegung, kreatives Tätigsein, sei es am Arbeitsplatz oder in der Freizeit. Wichtig ist auch das Resonanzerleben. Dies bedeutet, dass sich Mitarbeiter von ihrem Unternehmen getragen und ernst genommen fühlen und deren emotionaler Wert wiederholt durch kleine Gesten des Wahrgenommenwerdens unterstrichen wird. Diese Mitarbeiter fühlen sich insgesamt wohler. Es geht auch darum, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen, zu artikulieren und mit den äusseren Anforderungen so gut es geht in Einklang zu bringen. Insbesondere im Arbeitsalltag und im Privatleben, wo oft Mehrfachbelastungen auf das Individuum wirken, sollte versucht werden, den Arbeitsplatz aktiv mitzugestalten und eine aktive Erholung im Alltag zu setzen.

Bereits von jungen Menschen wird immer früher immer mehr verlangt.

Wie am Arbeitsplatz ist es wichtig, dass Kinder Sinnhaftigkeit in der Schule und in ihrem persönlichen Umfeld erleben. Und auch für sie gilt: Je mehr soziale Teilhabe, je mehr geistige und körperliche Bewegungsfreiheit, umso höher ihr Wohlbefinden und ihr Gefühl, das Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Ein zufriedenes Arbeitsleben beginnt bereits bei der Berufswahl. Insofern sind hier Eltern, Lehrer und Betriebe angehalten, Jugendlichen einen beruflichen Weg zu ermöglichen, der ihren eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten entspricht und weniger den Vorstellungen Dritter.

Die Depression ist weder auf spezielle Berufsgruppen noch auf Geschlechts- oder Altersgruppen begrenzt. Sie betrifft allerdings häufig Menschen mit hoher Fachexpertise und Loyalität, aber geringem Entscheidungsspielraum. Weshalb auch Frauen mit dem Traumjob Hausfrau?

Ob das zu jedem Zeitpunkt zutrifft, dass Hausfrau und Mutter der absolute Traumjob ist, da möchte ich ein paar Zweifel anmelden. Die Depression kann jeden treffen, gerade auch Hausfrauen. Ein hoher Frauenanteil ist nicht ungewöhnlich, denn sie sind häufig in solchen Sandwichpositionen zwischen gewissen Abhängigkeiten, Loyalitäts- und auch Leistungsdruck – zum Beispiel in Erziehungsfragen oder bei pflegebedürftigen Eltern. Bei Frauen im Allgemeinen sehen wir, dass sie sich auch schwerer tun, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen – das liegt an der häufigen «Multiinvolviertheit», das heisst Betreuung von Kindern, Teilzeitarbeit, Betreuung von betagten Eltern, Mitarbeit in sozialkaritativen Einrichtungen und vielem mehr.

Die direkten und indirekten Folgekosten durch psychische Erkrankungen in Milliardenhöhe sind beeindruckend. Wie könnte die Wirtschaft dieser Problematik Gegensteuer geben?

Unternehmen spielen eine wichtige Rolle. Sie geben vor, ob Mitarbeitende Teamarbeit, Ehrlichkeit und Wertschätzung erfahren. Führungskräfte müssen mit vernünftigen Zielvorgaben führen, damit Mitarbeitende ihre Tätigkeit als sinnvoll erleben und sich ihrer Rolle im Gesamtgebilde des Unternehmens bewusst sind. Können Mitarbeitende ihr Tun nicht nachvollziehen, sprechen wir von einer Sinnentkoppelung, die krank machen kann. Treten häufige Krankheitsfälle auf, ist es wichtig, dass Unternehmen das Problem nicht bei den Erkrankten ausmachen, sondern das System als Verursacher in Betracht ziehen. Eine wichtige Rolle kommt den Unternehmen bei der Reintegration erkrankter Menschen zu. Es wird häufig unterschätzt, dass gerade Mitarbeitende, die erkranken, ein überproportional hohes Mass an Loyalität mit dem Betrieb besitzen und somit von hohem Wert sind.

Was wird unternommen, dass depressives Kranksein kein Tabuthema mehr ist?

Wir müssen für mehr Aufklärung sorgen. Auch deshalb, weil eine depressive Erkrankung für das Umfeld nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Im Clinicum Alpinum werden wir themenspezifische Anlässe für Experten und die breite Öffentlichkeit durchführen und das Haus für externe Anlässe öffnen, sofern sie einen Beitrag zum besseren Verständnis dieser Krankheit leisten. Dies mit dem Ziel, Brücken zu bauen und mentale Schranken im Umgang mit der Krankheit zu öffnen. Gerade den Betroffenen hilft es sehr, wenn sie angesprochen werden, wenn ihnen aktiv Hilfe angeboten und Verständnis entgegengebracht wird, weil sie sich häufig gar nicht mehr selbst artikulieren können. Wenn Betroffene und Angehörige Verhaltensänderungen feststellen, sollten sie frühzeitig zum Hausarzt gehen. Ernst zu nehmende Frühwarnzeichen sind, wenn Menschen plötzlich dünnhäutiger oder ängstlicher werden oder unter Schlafstörungen leiden.

Das Risiko, einmal im Leben an einer psychischen Krankheit zu leiden, liegt bei 25 Prozent. Wer ist im Berufsleben im Zugzwang? Der Arbeitnehmer selber, der Vorgesetzte, die HR-Fachkräfte?

Sowohl als auch. Die Verantwortlichen in den Unternehmen können gewisse Anzeichen feststellen und dürfen diese nicht ignorieren. Betroffene haben häufig Bedenken, sich zu öffnen und ihre Situation darzulegen. Es macht Sinn, am richtigen Ort Flagge und Solidarität zu zeigen, wenn Symptome erkannt oder Verhaltensänderungen festgestellt werden. Das gilt insbesondere für Vorgesetzte. Sie sind in solchen Situationen angehalten, ihren Mitarbeitenden Aufmerksamkeit zu schenken. Wichtig ist, dass frühzeitig eine Vertrauensbasis aufgebaut wird.

Mitarbeiter, die kurzfristig in eine Depression fallen, können für eine Firma positive Folgen haben.

Mehr als zwei Drittel der Menschen, die eine schwere Depression überstanden haben, weisen eine enorme emotionale Lernkurve auf und können ihre Leistungsfähigkeit zu 100 Prozent wieder abrufen. Deshalb bedeutet der Begriff «Depression» auch «Tiefsinn». Ein Betrieb profitiert in jedem Fall davon, wenn er tiefsinnige Menschen beschäftigt. Sie sind generell oft loyaler und leistungsbereiter als andere. Nach einer Therapie lassen diese Eigenschaften nicht nach, im Gegenteil. Auch in diesem Zusammenhang muss noch Aufklärungsarbeit geleistet werden. Der unmittelbare Austausch mit den Unternehmen ist daher auch für das Clinicum Alpinum von grosser Bedeutung. Wir verstehen uns als Partner auf Augenhöhe mit den wirtschaftstreibenden Betrieben.

Sie sagten einmal, «Depression soll nicht Angst, sondern Mut machen».

Es ist eine grosse Herausforderung, Menschen, die noch nie von einer Depression betroffen waren, das Wesen einer Depression zu erklären. Mehr als zwei Drittel der rechtzeitig und richtig erkannten und gemäss den internationalen Standards behandelten depressiven Störungen gesunden nachhaltig. Aus diesem Grund ist eine Depression durchaus als Lebenschance zu sehen.

Das Clinicum Alpinum, eine stationäre Einrichtung zur Behandlung von Stressfolgeerkrankungen, wird Anfang 2019 auf Gaflei eröffnet. Gaflei liegt auf 1500 m ü. M. inmitten einer wunderschönen Alpenlandschaft. Wie wichtig ist die Natur bei der Heilung von Depressionen?

Die Natur und in unserem besonderen Fall die alpine Lage sind Teil unseres Gesamtkonzeptes. Wir sprechen von einer heilenden Umgebung, in der sich eine heilende Architektur verantwortungsvoll einbettet. Das Therapiekonzept umfasst neben den Gesprächs- und nichtsprachlichen Therapieformen die vier weiteren Säulen Bewegung, Ernährung, Schlaf und Licht. Dafür ist die Umgebung, die Natur, eine wichtige Grundlage.

Rund 40 Angestellte sollen in der Privatklinik mit 50 Einzelzimmern jährlich bis zu 250 Patienten behandeln. Sind die Jobs bereits vergeben?

Wir haben mit der Rekrutierung begonnen und sehr interessante Bewerbungen erhalten. Die vollständige Besetzung des Teams sollte bis Ende Jahr sichergestellt sein. Wir benötigen Fachkräfte in den Bereichen Therapie, Verwaltung und Hotellerie. Im therapeutischen Bereich werden Fachärzte sowie medizinisches Fachpersonal eingestellt. In der Verwaltung wird qualifiziertes Personal aus den Bereichen Administration, Finanzen, Marketing, Einkauf sowie Zentrale und Externe Dienste rekrutiert. Die Hotellerie bietet Arbeitsplätze in den Bereichen Rezeption, Service, Küche, Housekeeping.

Werden auf Gaflei auch Lernende ausgebildet?

Das Clinicum Alpinum wird kein Ausbildungsspital im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie sein. Im administrativen Bereich können wir uns hingegen vorstellen, Ausbildungsplätze anzubieten.

Die Gesundheitsbranche ist die Zukunftsbranche. Weshalb?

Wir werden immer älter und die Gesellschaft wird mit immer mehr Krankheiten konfrontiert sein. Dabei wird insbesondere die Multimorbidität ein Thema sein, das heisst, Menschen haben verschiedene Krankheiten, was die Therapie umso anspruchsvoller macht. Das schliesst ein, dass es immer mehr auch zu Spezialisierungen kommt – nicht mehr nur in der Körpermedizin, sondern auch in der Psychiatrie. Gemäss WHO wird die Depression bis 2030 die häufigste Krankheit sein. Auch erleben wir eine Zunahme der Altersdepression. Insofern bewegen sich Gesundheitsbetriebe, die sich dem Gesundwerden und -bleiben verpflichten, in einer Zukunftsbranche.

Wie sorgen Sie persönlich für Ihre eigene Work-Life-Balance?

Fakt ist, dass Work und Life – sprich Arbeit und Privatleben – eine Einheit bilden, denn ein befriedigender Arbeitsplatz wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden eines Menschen aus und umgekehrt wirken sich ausreichend Licht, Schlaf, eine gute Ernährung, Bewegung und persönliche Zeit für sich selbst positiv auf die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz aus. In unserem Fall fliesst tatsächlich alles ineinander: Wir bauen etwas aus, das uns als gesamte Familie einnimmt, achten aber gleichzeitig darauf, ausreichend Abgrenzungen zu ermöglichen und neben dem Klinikprojekt ganz alltägliche und ebenso schöne Dinge zu tun, wie eine Wanderung in den Bergen, gemeinsame Ferien oder eben auch mal gar nichts.

Interview mit Michaela Risch, VR-Präsidentin des Clinicum Alpinum als PDF
(von liewo)

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