Eine Depression kommt selten alleine oder was war zuerst da – das Huhn oder das Ei?

Die zweite nationale Komorbiditätsstudie (Kessler et al., 2005 a, 2005b) aus den USA zeigt, dass innerhalb eines Jahres regelmässig ein Viertel der Bevölkerung eine diagnostizierbare psychische Störung erleidet und deswegen behandlungsbedürftig wird. Dabei sind die depressiven Erkrankungen nach den Angsterkrankungen die zweithäufigste psychiatrische Erkrankungsgruppe. In der Praxis ist die Komorbidität (Begleiterkrankung) von Angst und Depression die Regel. 45% der diagnostizierten Patienten weisen zwei oder mehr Diagnosen auf. Die Frage, welche sich jeweils stellt, ist, was zuerst da war: das Huhn oder das Ei bzw. die Depression oder die Angst? Schlussendlich können depressive Erkrankungen anderen psychischen als auch
körperlichen Erkrankungen zeitlich vorangehen oder auch folgen. Die richtige und frühzeitige Erkennung von Komorbiditäten hat eine grosse Bedeutung für die Diagnostik, die Therapie und den Verlauf der psychischen und/oder körperlichen Erkrankungen. Rückblickend ist es oft schwierig nachzuvollziehen, was zuerst da war. Deshalb sind eine ausführliche psychiatrische Anamnese sowie eine genaue Diagnostik und Differentialdiagnostik äusserst wichtig

Welche anderen psychischen Erkrankungen treten mit der Depression auf?

Eine depressive Episode tritt oft in Kombination mit anderen psychischen Erkrankungen auf. Die folgenden psychischen Störungsbilder stellen die häufigsten Komorbiditäten einer depressiven Erkrankung dar:
Angst- und/oder Panikstörung
Übermässige, übersteigerte Ängste und/oder Panikattacken treten oft zusammen mit einer Depression auf. Im BDA-Manual Depression (ifap, 2005) schreibt der deutsche Hausärzteverband, dass 95% der depressiven Patienten mehrere Angstsymptome entwickeln, während bei 65% der Angstpatienten depressive Symptome zu beobachten sind). Nicht selten kommt es vor, dass weder die Symptomatik der Angststörung noch der Depression stark genug ausgeprägt ist, um die jeweils entsprechende klinische Diagnose zu vergeben.

Zwangsstörungen
Zu unserem Leben gehören viele Unsicherheiten dazu. Jederzeit könnten wir an einer schweren Krankheit erkranken, in einen Autounfall verwickelt werden, usw. Mit diesen unkontrollierbaren Risiken müssen wir lernen umzugehen. Jedoch gibt es Menschen, welche diese Risiken kaum aushalten, da sie beispielsweise ein überzogenes Verantwortungsgefühl haben, die Gefährlichkeit und den negativen Ausgang von (zukünftigen) Ereignissen überschätzen und mögliche Konsequenzen dieser Ereignisse katastrophisieren. Sie beginnen dann, sich x-Mal zu kontrollieren, ob z. B. die Herdplatte ausgeschaltet ist, waschen und desinfizieren sich stundenlang beispielsweise die Hände oder entwickeln eigene Rituale, um diese Risiken abzuwehren bzw. zu kontrollieren. Von Zwangsstörungen Betroffene leiden stark unter diesen sich immer wieder aufdrängenden Gedanken oder Handlungen und können diese nicht unterdrücken, obwohl sie von den Betroffenen selbst als unerträglich, sinnlos oder zeitraubend empfunden werden.

Konsumation von Suchtmitteln
Bei depressiven Erkrankungen besteht ein erhöhtes Risiko eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit zu entwickeln. Mit der Konsumation von Drogen oder Alkohol finden depressive Patienten häufig einen (vorübergehenden) Ausweg aus ihrer niedergeschlagenen Stimmung, der Hoffnungslosigkeit und der Traurigkeit, indem sie den Substanzkonsum als Emotionsregulationsstrategie verwenden. Wichtig ist, dass der behandelnde Arzt oder Psychologe im Falle eines Alkohol- oder Drogenproblems darüber Bescheid weiß, um angemessene Hilfe anbieten und gemeinsam mit dem Patienten funktionale Strategien entwickeln zu können. Wichtig ist, dass Betroffene offen über ihre Alkohol- und Drogengewohnheiten mit ihrem Behandler sprechen.

Schlafstörungen
Bei praktisch allen psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Depressionen und Angstzuständen, treten Schlafstörungen auf. Während Schlafstörungen lange Zeit nur als ein Symptom der Depression eingestuft wurden, so ist heute erwiesen, dass sich beide Erkrankungen wechselseitig beeinflussen können. Zu kurzer, schlechter oder gestörter Schlaf wirken sich negativ auf unser Wohlbefinden sowie unsere körperliche und psychische Gesundheit aus.

Essstörungen
Insbesondere Frauen sind während einer Depression häufig auch von einer Essstörung (Magersucht oder Bulimie) betroffen oder umgekehrt: es konnte mehrmals bestätigt werden, dass zumindest die Hälfte aller Patientinnen mit Magersucht und Bulimie bereits einmal im Leben an depressiven Störungen leidet bzw. litt.

Psychosen
Eine schwere Depression kann mit psychotischen Anzeichen, wie z. B. Wahnideen, Halluzinationen oder extrem verlangsamter Reaktion auftreten. Psychose kann sowohl ein Symptom der Depression als auch ein eigenständiges Störungsbild vorkommen. Ähnlich wie bei der Schlafstörung.

Somatische Krankheitsbilder können die Entstehung einer Depression begünstigen

Depression können auch in Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen auftreten. Dabei bereitet meist schon die Diagnose einer körperlichen Krankheit den Betroffenen Ängste und Sorgen. Bei chronischen oder lebensbegrenzenden Erkrankungen sind Depressionen meist eine Reaktion auf die andauernde und konstante Belastung der Betroffen und die Veränderung ihrer Lebensumstände. Psychische Störungen sind häufige Begleiterscheinungen bei Patienten mit (chronischen) körperlichen Erkrankungen. Dies trifft vor allem bei folgenden Krankheitsbildern zu:
Krebserkrankungen
Depressive Symptome sind im Zusammenhang mit Krebserkrankungen nicht selten. Sie treten beispielsweise während der Diagnose auf, wenn der Patient erkennt, dass er wirklich Krebs hat; nach dem Abschluss der Erstbehandlung und dem Bewusstwerden, was geschehen ist; nach Operationen, die das Bild vom eigenen Körper verändern können; wenn Lebenspläne verloren gehen; wenn die Krebserkrankung trotz Therapien weiter voran-schreitet. Psychoonkologen können den Betroffenen in solchen Situationen unterstützend zur Seite stehen.

Herzkreislauferkrankungen
Es ist unbestritten: Psychische Belastungen können Herzbeschwerden verursachen. Dasselbe gilt aber auch im Umkehrschluss. So sind auch Herzkreislauf-Erkrankungen sehr häufig mit psychischen Reaktionen verbunden. Die Betroffenen fühlen sich durch ihre Erkrankung häufig stark verunsichert und beunruhigt. Herzrhythmusstörungen, Reanimation aufgrund eines Herzinfarkts oder Implantation eines Herzschrittmachers oder Defibrillators – dies alles sind Erlebnisse und Bedingungen, die insbesondere ängstliche und depressive Symptome auslösen können. Insbesondere auch dann, wenn die Erkrankung eine Lebensstilveränderung notwendig macht und der betroffenen Person die Adaptation an die neuen Lebensumstände nicht (vollständig) gelingt.

Schlaganfall
Trauer und Niedergeschlagenheit sind kurz nach einem Schlaganfall normal. Etwa ein Drittel der von einem Schlafanfall Betroffenen entwickeln als Folge jedoch eine behandlungsbedürftige Depression. Depressionen treten meist in den ersten Wochen nach einem Schlaganfall auf. In dieser Zeit müssen Betroffene die Erfahrung verarbeiten, dass ihr Leben bedroht war, und sich von der körperlichen Belastung erholen. Mittel- und langfristig müssen manche Menschen lernen, mit Behinderungen und ihren Folgen für den Alltag umzugehen. Dies kann einige Zeit dauern, und einige Menschen entwickeln vielleicht erst dann eine Depression.

Chronische Schmerzen
Wer ständig unter Schmerzen leidet, ist auch häufig von einer Depression nicht weit entfernt. An chronischen Schmerzen Leidende müssen ihren Alltag oft enorm einschränken. Dies führt zu einem sozialen Rückzug und einer Einsamkeit, welche das Entstehen einer Depression fördern. Oft entsteht ein Teufelskreis: Denn durch das Schonungsverhalten werden die Schmerzen grösser.

Diabetes
Diabetespatienten haben ein grösseres Risiko an Depressionen zu erkranken Zum einen schränkt Diabetes als chronische Krankheit das Leben der Betroffenen sehr ein und kann somit Depressionen zur Folge haben (besonders bei Menschen mit diabetischen Folgeschäden ist das Depressionsrisiko erhöht). Zum anderen gibt es biochemische Gemeinsamkeiten zwischen Diabetes und Depression:
z. B. eine veränderte Ausschüttung verschiedener Hormone wie Kortisol, Noradrenalin und Serotonin. Rund ein Viertel aller Diabetiker leidet an depressiven Verstimmungen. Ein riskantes Duo, denn depressive Verstimmungen mindern nicht nur die Lebensqualität. Sie erhöhen auch das Risiko für einen ungünstigen Verlauf des Diabetes.

Allergien
Allergische Erkrankungen wie Asthma, Neurodermitis oder Heuschnupfen können die Betroffenen so belasten und in ihrer Lebensgestaltung einschränken, dass sich eine Depression als Folge entwickeln kann.

Differentialdiagnostik kommt zentrale Bedeutung zu

Diagnostik, die Therapie und den Verlauf der psychischen und/oder körperlichen Erkrankungen. Rückblickend ist es oft schwierig nachzuvollziehen, was zuerst da war. Deshalb sind eine
ausführliche psychiatrische Anamnese sowie eine genaue Diagnostik und Differentialdiagnostik äusserst wichtig. Unter eine Differentialdiagnose versteht man Erkrankungen mit ähnlicher bzw. nahezu identischer Symptomatik, die vom Arzt neben der eigentlichen Verdachtsdiagnose ebenfalls als mögliche Ursachen der Patientenbeschwerden in Betracht gezogen werden müssen.
Die Abgrenzung einer bestimmten Krankheit von Erkrankungen mit ähnlicher oder übereinstimmender Symptomatik ist die Aufgabe der Differentialdiagnostik, die mit möglichst geringem Aufwand sichere Diagnosen-Ausschlüsse erzielen soll. Eine genaue Differentialdiagnostik beugt Komplikationen in der Behandlung vor. Differentialdiagnostisch ist die Depression abzugrenzen von:
– Körperlichen Erkrankungen
– Somatisierungsstörungen
– Substanzmissbrauch bzw. -abhängigkeit
– Neurologische Erkrankungen
– Trauer
– Schizophrenie bzw. schizoaffektive Störungen
– Bipolare Störungen

Professionelle Hilfe suchen unabhängig von weiteren Krankheitsbildern

Die gute Nachricht: eine Depression ist sehr gut behandelbar, unabhängig von etwaigen begleitenden Krankheitsbildern. Je schneller die Depression diagnostiziert und professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird, umso grösser sind die Heilungschancen. Zudem ist es nicht nur für die Patienten selbst, sondern auch für die Angehörigen, das Umfeld und die Öffentlichkeit essentiell wichtig, über die Symptome, den Krankheitsverlauf und die Behandlung der Depression und die möglichen begleitenden Krankheitsbildern aufgeklärt zu werden. Dies hilft nicht nur den betroffenen Patienten ihre Erkrankung besser zu bewältigen, sondern bewahrt gleichzeitig das Umfeld davor, Fehler im Umgang mit den Erkrankten zu machen. Eine erfolgreiche Depressionsbehandlung wirkt sich in vielen Fällen auch positiv auf die komorbiden Erkrankungen aus, wodurch sich auch die Lebensqualität des Patienten deutlich verbessert. Eine frühzeitige Behandlung beispielsweise der Depression kann das Ausmass der Depression verringern, die Lebensqualität des Betroffenen erhöhen und die negativen Auswirkungen auf den Verlauf der körperlichen Erkrankung reduzieren.

Dr. med. Marc Risch

Zum Autor
Dr. med. Marc Risch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er studierte Humanmedizin in Zürich und Innsbruck und schloss sein Studium in Innsbruck mit einem Doktorat ab. In den weiteren Jahren absolvierte er vertiefende Ausbildungen unter anderen in den Bereichen Krisenintervention, wo er zusammen mit seiner Frau als Ausbildner für das Rote Kreuz tätig war. Seit 2012 führt der Psychiater seine eigene Praxis in Schaan und arbeitet als Chefarzt im Clinicum Alpinum.

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