«Weltweit sind über 300 Millionen von einer Depression betroffen»

Der heute präsente Begriff «Stress» wird der Wortbedeutung nach am besten als «Druck, Anspannung und Beanspruchung» umschrieben. Stress ist nach Meinung von Marc Risch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH im Clinicum Alpinum in Gaflei, Liechtenstein aber nicht prinzipiell als negativ zu bewerten. Ein Gespräch über Depressionen, volkswirtschaftliche Schäden und Prävention.

Marc Risch, die Verbindung von Depression und «Rentabilität» scheint auf den ersten Blick ziemlich seltsam. Was ist der Hintergrund dafür, dass Sie dieses Thema aufnehmen?

Wir wissen, dass personalisierte Therapien bei De­pressionen sehr gut und nachhaltig helfen. Eine grosse Studie der Weltgesundheitsorganisation be­legt, dass dies auch ökonomisch sinnvoll ist. Jeder Franken, den man in die Behandlung von psychischen Erkrankungen (Depressionen sind dabei die häufigsten) investiert, führt zu einem «social return on investment» von vier Franken, der sich aus einer besseren Gesundheit und einer höheren Arbeitspro­duktivität und der Einsparung von direkten und in­direkten Schadenskosten bei frühzeitig und erfolg­reich therapierten Patienten zusammensetzt. An­lässlich des 1. Oktobers, dem europäischen Tag der Depression, lohnt es sich umso mehr, sich diesen Zu­sammenhang vor Augen zu führen und das Bewusstsein für eine spezialisierte Behandlung der Depres­sion zu stärken. Denn die WHO rechnet damit, dass im Jahr 2030 die affektiven Störungen, zu denen vor allem Depression und somit auch schwere Stressfol­geerkrankungen zählen, die häufigsten Krankheiten darstellen werden. Weltweit sind aktuell mehr als 300 Millionen Menschen von einer Depression be­troffen, Tendenz leider stark steigend.

«Mehr als zwei Drittel der rechtzeitig erkannten und behandelten depressiven Störungen gesunden nachhaltig.»

Depression als Verlust für die Volkswirtschaft: Wurde das bisher zu wenig wahrgenommen? Normalerweise reagiert die Wirtschaft ja schnell auf solche Entwicklungen.

Wir müssen hier mehrere Trends und Faktoren be­achten. Klar ist, dass zu spät erkannte und nicht 
rechtzeitig therapierte Erkrankungen viel Geld kosten – das gilt für die Körper­ und Seelenmedi­zin gleichermassen und ist keine neue Erkenntnis. Eine Investition in Prävention und niederschwelli­ge Hilfsangebot sind selbstredend wichtig. Im Be­reich psychischer Gesundheit haben wir aber einen wesentlichen Zusatzfaktor zu betrachten, der in der Körpermedizin nicht so schwer wiegt. Gemeint ist die Scham der Patienten und das resultierende Verhalten der Vermeidung, was sich im beruflichen Kontext häufig als «Präsentismus» zeigt, aber häufig nicht auffällt, bis es zum «Zusammenbruch» kommt. Erstaunlich ist, dass die Wahrnehmung und die Re­aktionsbildung auf psychische Nöte trotz der Auftre­tenshäufigkeiten (aktuell sind 10 % der Bevölkerung im Sinne der sog. Punktprävalenz psychisch erkrankt und behandlungsbedürftig) noch mangelhaft ist. Hier tut Aufklärung Not – v. a. ist es wichtig darzu­legen, dass psychische Erkrankungen in den meisten Fällen gut bis sehr gut zu behandeln sind.

Wie sehen die Stressfolgeerkrankungen, die von einer Depression ausgelöst werden können, konkret aus?

Der heute präsente Begriff «Stress» wird der Wort­bedeutung nach am besten als «Druck, Anspannung und Beanspruchung» umschrieben. Stress ist aus un­serer Perspektive nicht prinzipiell als negativ zu be­werten, da uns Stress überhaupt erst in die Lage ver­setzt, Wünsche zu haben, differenziert zu denken, Perspektiven zu entwickeln, den Antrieb aufzubrin­gen zu planen und Dinge umzusetzen – kurzum Leis­tung zu erbringen und kreativ sein zu können. Stress­folgeerkrankungen können überall dort entstehen, wo die Beanspruchung nicht mehr adäquat reguliert werden kann, dann sprechen wir von dysfunktiona­lem Stress. Die Bandbreite für Stressfolgeerschei­nungen reicht von einfachen, vorübergehenden ve­getativen Syndromen (bspw. Magenbeschwerden) bis hin zu komplexen Erschöpfungsbildern. Immer sind dabei die persönliche, psychische Bewertung der Symptome und der Umgang damit entscheidend. Unser Verständnis von Stressfolgeerkrankungen fusst auf der Überzeugung, dass sich körperlicher und emotionaler Stress gegenseitig verstärken kön­nen und daraus schwerste Krankheitsbilder wie plötzlich auftretende Angst­ und oder Panikstörun­gen sowie schwer depressive Zustände resultieren.

«Die Wahrscheinlichkeit, an den Arbeitsplatz zurückzukehren, sinkt nach drei Monaten Krankschreibung ohne adäquate Behandlung auf unter 50 %.»

Ob es sich dabei primär um eine existenzielle Bedro­hung im Zusammenhang mit beispielsweise einer Tumorerkrankung oder aber anhaltender Überfor­derung im privaten und /oder beruflichen Kontext handelt, ist für eine ganzheitliche und individuali­sierte Behandlung unerheblich. Was deutlich zuge­nommen hat, sind die schnellen Verschlechterungen von Symptomen. Wir sehen zunehmend regelrechte «emotionale Zusammenbrüche» binnen Stunden/ Tage, die wir näherungsweise als «akute Depression» umschreiben müssen und die ein beherztes Vorge­hen und Intensivbehandlungen notwendig machen. Das Vollbild einer schweren, emotional einschrän­kenden Stressfolgeerkrankung nennt man nach unserem Verständnis «Depression». Insbesondere wenn Betroffen nicht mehr in der Lage sind, die ein­fachsten Alltagsfunktionen auszuführen.

Wer erfolgreich therapiert wird, ist danach produktiver. Das ist vermutlich in der Leidensphase nicht das erste Ziel von Betroffenen. Inwiefern ist das auch wichtig für den Einzelnen, nicht nur für die Volkswirtschaft?

Mehr als zwei Drittel der rechtzeitig und richtig er­kannten und gemäss den internationalen Standards behandelten depressiven Störungen gesunden nach­haltig. Betroffene, die eine schwere Depression über­standen haben, weisen eine enorme emotionale Lernkurve auf und können ihre Leistungsfähigkeit meist zu 100 Prozent wieder abrufen. Zudem sind sie sich ihrer Fähigkeiten und Grenzen nach einer inten­siven psychotherapeutischen Arbeit viel bewusster. «Depression» soll Betroffenen also nicht Angst machen, sondern vor allem Mut. Depression kann für den Einzelnen durchaus auch als Lebenschance ge­sehen werden, wenn man die Depression nicht «ein­fach bekämpfen» will, sondern den Tiefsinn der De­pression, als Wert erkennt und diesen in einen neuen Gesamtkontext stellt.

Die Behandlung von Depression ist also positiv für die Volkswirtschaft, gleichzeitig entstehen Gesundheitskosten. Prävention wäre vermutlich die günstigere Lösung. Wird dem auch Rechnung getragen?

Die Frage ist wichtig. Sicherlich braucht es beides. Prävention, niederschwellige Hilfen, ambulante und stationäre Angebote müssen sich optimal ergänzen. Was auffällt ist, dass gerade im Kontext von Gesund­heit verstärkt auf die entstehenden Kosten geschaut wird. Das Solidaritätsprinzip unserer Sozialwerke wird zunehmend ausgehöhlt, durch nicht zielgerich­tete Kostendiskussionen. Tatsache ist – ein qualitati­ves Gesundheitswesen kostet Geld, beinhaltet aber auch Arbeitsplätze u. v. m. Wir Gesundheitsdienst­leister zahlen bekanntlich auch Mieten und leisten Steuerabgaben. Politik, Gesellschaft, Versicherer und Leistungserbringen tun gut daran, sich den He­rausforderungen, die sich in den nächsten Jahren aus der psychiatrischen Grundversorgung ergeben, gemeinsam zu stellen und kluge Lösungen zu ent­wickeln. Denn am meisten Geld kostet es, wenn wir Patientinnen und Patienten in die Chronizität verlie­ren und Berentungen notwendig werden. Das heisst auch, dass schnelle Hilfen wichtig sind, denn: Die Wahrscheinlichkeit, an den Arbeitsplatz zurückzu­kehren, sinkt nach drei Monaten Krankschreibung ohne adäquate Behandlung auf unter 50 %.

Geht das Clinicum Alpinum beim Thema Depression bestimmte neue Wege, verfolgt es neue Ansätze?

Wir erfinden das Rad nicht neu, sondern konzentrie­ren uns konsequent auf einen Diagnosebereich, den Bereich der affektiven und reaktiven Störungen. An­ders gesagt: Wir spezialisieren uns und können damit unseren Patienten eine individualisierte, «State of the Art»­konforme Therapie anbieten, die ihre Bedürf­nisse und v. a. die bereits gemachten Behandlungser­fahrungen berücksichtigt und integriert. Leider ist es nach wie vor so, dass das Fachgebiet der Psychiatrie ein sehr breites Diagnosespektrum abzudecken hat: Depression, psychotische Erkrankungen, Persönlich­keitsstörungen oder Suchterkrankungen, um nur ei­nige zu nennen. Betroffene erhalten somit leider oft Standardtherapien und diese oft auch noch zu spät. Damit verpassen wir Heilungschancen. Diese Ent­wicklung wollen wir mit unserer Klinik durchbrechen. Wir haben uns auf die stationäre Behandlung von De­pressionen fokussiert – nicht mehr und nicht weniger. Ein weiteres zentrales Element unserer Klinik ist der Standort: naturnah, diskret und dennoch gut er­reichbar. Für die Genesung sozusagen eine Perle in den Alpen. Ziel ist es, ein sowohl als auch zwischen Körper­ und Seelenmedizin zu etablieren und somit Körper und Geist langsam, aber nachhaltig wieder in Bewegung zu bringen. Das geht nicht von heute auf morgen – eine Behandlung in unserer Klinik wird entgegen dem Trend «ambulant vor stationär» zwi­schen acht und zwölf Wochen dauern. Wir verstehen uns gewissermassen als Intensivstation für depressi­ves Kranksein.

Interview: Stefan Millius
Bilder: zVg

Interview mit Dr. med. Marc Risch als PDF
(von Leader Magazin)

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