Ausgebuchte Therapieplätze und der raue Ton auf den sozialen Medien: Marc Risch spricht über die momentanen Entwicklungen.
Psychiater Marc Risch, Chefarzt des Clinicum Alpinums, spricht über die Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft in psychischer Hinsicht steht. Dabei beobachtet er einen Anstieg an Anfragen um Therapieplätze und diesbezügliche Versorgungsengpässe. Dabei stellt er ausser Frage, dass die Regierungsmassnahmen gerechtfertigt sind.
Herr Risch, im vergangenen Sommer sagten Sie gegenüber dem «Vaterland», dass die zweite Welle bereits eingetroffen sei: nämlich in psychischer Form. Sie erkannten dabei einen deutlichen Anstieg an Patientenanfragen in Zusammenhang mit Suchtmitteln. Hat sich die Situation seit da verbessert?
Marc Risch: Nein, sie hat sich aber verändert. Damals ging es qualitativ tatsächlich um Suchtprobleme. Im Mittelpunkt stand der ansteigende Cannabis-Konsum von jungen Menschen und das Abrutschen in den Alkohol von Menschen im mittleren Alter. Jetzt merken wir einen deutlichen Anstieg der Hilfsbedürfnisse losgelöst von einer Suchtproblematik. Deutlich angestiegen sind
Anmeldungen von jungen Erwachsenen sowie Personen, die kurz vor der Pension stehen oder gerade in die Pension eingetreten sind.
Das sind unterschiedliche Altersklassen, die augenscheinlich nichts gemeinsam haben
Man muss mit Verallgemeinerungen sehr vorsichtig sein. Jedoch: Beiden Gruppen fehlt es aber an der sozialen Teilhabe. Zum einen sind sie noch nicht oder nicht mehr im Arbeitsprozess eingebunden. Arbeit ermöglicht soziale Kontakte, man kann Small-Talk führen und erfährt Resonanz. Das fehlt den Schülern, den Studenten, den Lehrlingen teilweise, und eben auch den Menschen im
sogenannten Ruhestand. Zum anderen haben beide Gruppen auch im privaten Bereich weniger Kontakt. Junge Menschen tragen noch nicht die Verantwortung als Familienväter oder -mütter und ältere Menschen werden derzeit nicht von Enkeln besucht.
Handelt es sich vor allem um diese genannten Gruppen, die psychisch betroffen sind?
Nein, nicht nur. Eine aktuelle laufende Studie – Swiss Corona Stress Study von der Covid-19 Task Force – zeigt auf, dass sich die Stressbelastung zwischen der ersten und zweiten Welle, also zwischen Frühling und Herbst, bereits verdreifacht hat. Daraus kann man schliessen, dass Menschen vermehrt unter Erschöpfungszuständen leiden, je länger die Pandemie andauert. Es ist schwer abzuschätzen, wie lange die Pandemie dauern wird. Ist aber davon auszugehen, dass auch danach die psychischen Folgen anhalten werden? Eine schwierige Frage. Ich gehe davon aus, dass es in den nächsten Jahren deutlich akzentuieren wird. Wenn von offizieller Seite die Pandemie als beendet erklärt wird, dann rutschen viele Leute von einer gegenwärtigen Anspannung in eine Krankheit. Um es anschaulich zu machen: Viele Menschen werden ja zu Beginn der Sommerferien krank. Solche Art von verschleppten Erschöpfungszuständen vermute ich besonders bei Menschen in der Pädagogik, Pflege und Medizin.
Können die psychologischen und psychiatrischen Praxen und Kliniken die Anfragen stemmen?
Die Grundversorgung wird grossmehrheitlich auch von Grundversorgerpraxen, Kinder- und Jugendärzten, Regionalspitälern und weiteren Posten getragen. Wir hatten bereits vor der Pandemie das Problem mit den Wartezeiten für Patienten. Doch auch hier hat sich die Situation in der ambulanten, teilstationären und stationären Grundversorgung verschärft. Phasenweise haben sich die
Wartezeiten seit Beginn der Pandemie für notwendige Behandlungen verdoppelt bis verdreifacht. In allen Bereichen merken wir Engpässe, Versorgungs- und Koordinationslücken.
Bei persönlichen Gesprächen und in den sozialen Medien ist oft zu hören, dass die Massnahmen nicht gerechtfertigt seien, wenn die gesellschaftlichen Folgen so gross sind. Wie stehen Sie zu dieser Aussage?
Ich höre mich in den letzten Monaten immer häufiger innerlich fluchen, wenn sich Menschen in den sozialen Medien in einer rechtspopulistischen Art positionieren und die Massnahmen und die Menschen, die sich daran halten, als «Angsthasen» abqualifizieren. Was wäre denn die Alternative? Eine konsequente Durchseuchung sicher nicht! Wir haben leider bereits zu viele
Direktbetroffene auf den Intensivstationen gesehen und die Nöte ihrer Angehörigen. Wir befinden uns im Spannungsfeld von Meinung und Ahnung.
Wie meinen Sie das?
Jeder wird zu einem Pseudoexperten. Ich räume ein, dass ich mich sehr anstrengen muss, auch diese Form der Meinung zu akzeptieren und die selbsternannten Statistiker mit ihren Excel-Listen, die sich gegenseitig in den sozialen Medien abfeiern. Dabei reden sie heute über das Wetter von gestern. Man darf darauf vertrauen, dass es Experten mit diversen Meinungen gibt, die
Empfehlungen abgeben und diese auf Gesellschaftstauglichkeit von verantwortungsvollen Politikern geprüft werden.
Wenn es gebetsmühlenartig vorgetragen wird, scheitert es schlussendlich an der Kommunikation?
Es wird ja immer wieder gesagt, dass Politiker schlecht kommunizieren. Ein einfaches Grundprinzip der Kommunikationspsychologie lautet: Es braucht einen Sender und einen Empfänger. Wenn im Krisenmanagement der Empfänger sich die Ohren zuhält, hat es der Sender schwer.
Dass sich die Menschen durch die Massnahmen eingeschränkt fühlen, ist doch verständlich?
Das ist nicht die Frage. Die Massnahmen sind alternativlos – wie auch das Ziel einer grösstmöglichen Durchimpfung. Das Eingeschränkt-Fühlen darf nicht als Gradmesser zur Lockerung herhalten. Die Gastronomie macht Druck und sagt: «Wir wollen zurück in die Normalität.» Dabei wird suggeriert, dass wir es geschafft hätten. Manchen platzt an Sitzungen der Kragen und sie sagen: «Ich
bin nicht mehr bereit, über bestimmte Themen zu diskutieren.» Leute, die ansonsten locker und bedacht wirken. Mich beklemmt auch die jüngste Demonstration in Chur. Meiner Meinung nach sind wir wohl erst in der Hälfte der Pandemiebewältigung.
Sie sagten einmal, dass in der Pandemiebewältigung die gesellschaftlichen Verwerfungen einer Spassgesellschaft aufscheinen. Was meinen Sie damit?
Eine gewisse Oberflächlichkeit im Leben ist wichtig, um ausgelassen zu sein. Ischgl ist ein eindrückliches Beispiel für eine oberflächliche Spassgesellschaft. Zum Leben gehört es, dass man sich etwas leistet, sich im Gasthof bedienen lässt und mit dem Mountainbike zu schnell um die Kurve fährt, auch wenn man Gefahr läuft, im Spital zu landen. Was mich aber beeindruckt: Es gibt
Menschen, die sich nicht mit dem Coronavirus und seinen Schattenseiten beschäftigen, die «10er-Regel» ausreizen. Es geht nur darum, den Rückgang zum persönlichen Spass zu rechtfertigen. Nach dem Metzger-Motto: «Dörfs a bezle meeh sii?» In fünf Jahren wird sich zeigen, ob sich die schrittweise Öffnung rentiert. Ich für meinen Teil brauche keine Super-Spreader-Events bevor eine hohe
Durchimpfung erreicht ist.
Interview mit Damian Becker, Vaterland
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