«Wir laufen im emotionalen Notbetrieb»

Einige benötigen infolge der Coronapandemie professionelle Hilfe, die Wartezeiten für Therapieplätze sind allerdings lang.

Psychologen schlagen Alarm. Die Pandemie wirke sich zusehends auf die Psyche aus. Eine Umfrage der Universität Basel zur zweiten Welle zeigt: Der psychische Stress hat im Vergleich zum Frühjahr zugenommen. Der Anteil der Personen mit schweren depressiven Symptomen lag während des Lockdowns im April bei rund 9 Prozent und stieg im November auf 18 Prozent. Gerade junge Leute und Personen, die finanzielle Einbussen hinnehmen und Zukunftsängste ausstehen müssen, sind besonders betroffen.

Mehr als doppelt so viele Anfragen in Gaflei

«Viele von uns laufen seit Mitte März des vergangenen Jahres gewissermassen im emotionalen Notbetrieb», sagt Marc Risch, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. «Aus meiner Perspektive ist die Hauptauswirkung diejenige, dass diese diffuse und doch sehr konkrete Bedrohung uns die gewohnte Handlungsautonomie- und Spielräume nimmt, und wir uns immer wieder auf sich verändernden Informationsgrundlagen anpassen müssen, um schwerwiegende Schäden für unsere Mitmenschen und uns selber abzuwenden», sagt Risch. Dauert eine solche diffuse Gefahr längere Zeit an, führe dies, mechanisch gesprochen, zu nachvollziehbaren Verschleisserscheinungen – bei einem mehr, beim anderen weniger.
Wenn dann der Endpunkt einer schwierigen Herausforderung nicht wirklich erkennbar ist, dann führe dies kumulativ bei gewissen Personengruppen zu hohen Belastungswerten und sie suchen laut Risch zu Recht fachliche Hilfe. Gerade Menschen, die gesellschaftlich wenig integriert waren oder sind, haben ein höheres Risiko, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, die behandelt werden muss. Dazu gehören auch Verhaltenssüchte, die deutlich zugenommen haben. Drogen, Alkohol oder Medikamente sind dann im Spiel. Das Clinicum Alpinum in Gaflei hat den Klinikbetrieb laut Risch aufgrund seines Schutzkonzeptes zwar auf eine maximale Kapazität von 28 Patienten eingegrenzt. «Demgegenüber steht aber eine mehr als doppelt so hohe Anzahl Anfragen von Patienten, die sich ambulant, teilstationär und/oder stationär dermassen beeinträchtigt fühlen, dass sie fachliche Hilfe benötigen», sagt Risch. Sowohl in der ambulanten Praxis als auch in der Klinik erlebt er auch ausserhalb seines Behandlungsspektrums einen deutlichen Anstieg an Behandlungsanfragen – zum Beispiel bei Suchterkrankungen. Die Wartezeiten für Psychotherapien sind allerdings lang, gerade bei Kindern und Jugendlichen können sie bis zu sechs Monate betragen, warnen Psychologen in der Schweiz. Der Nachwuchsmangel bei den Psychiatern verschärft das zusätzlich.
Das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber auch grundsätzlich die Psychiatrie im Vergleich zu anderen medizinischen Disziplinen ist laut Risch nicht sehr attraktiv – aus verschiedenen Gründen. Risch spricht von strukturellen Herausforderungen. Vor allem aber sei es in der Medizin und in der Pflege – das zeige die Pandemie deutlich – wichtiger denn je ausreichend Fachleute auszubilden, und nicht auf Leistungsimport zu setzen.

«Die Pandemie ist noch nicht überwunden»

«Aus medizinischer Sicht ärgert es mich masslos, wenn die Pandemie, aus welchen Gründen auch immer, für überwunden oder beendet erklärt wird», sagt der Facharzt. Das sei nicht der Fall. Es gebe viele Menschen, die auf unterschiedlichste Weise betroffen sind. Seien es Angehörige, die einen Menschen durch COVID verloren haben, oder Erkrankte, die unter den Langzeitfolgen leiden. Es gibt Menschen, die schon vor Corona eine Vulnerabilität für bestimmte Erkrankungen wie Depression oder Zwang hatten, und nun durch die Pandemie eine Reaktionsbildung auf die besonderen Herausforderungen entwickeln.
Aus gesellschaftlicher Perspektive spricht Risch auch von einer Art Blockbildung in den vergangenen Monaten. Es gebe die Befürworter und die Gegner, die sich mit zunehmender Härte und steigendem Unverständnis gegenüberstehen. Hier werde es künftig grosse Herausforderungen geben, gesamtgesellschaftlich wieder gemeinsam nach vorne zu sehen. Es liege dabei an jeden Einzelnen, in den kommenden Wochen und Monaten einen maximalen Beitrag zu leisten, diese Pandemie so gut wie möglich zu überwinden. «Ich bin zuversichtlich, dass der Staat hier weitere gute flankierende Massnahmen setzt, aber das verantwortungsvolle Handeln kann uns keiner abnehmen.»

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