Den Tiefsinn wieder entdecken

Im Clinicum Alpinum (FL) können Menschen mit schweren Depressionen seit April 2019 genesen. Die Behandlung umfasst die fünf Säulen von Bewegung, Schlaf, Licht sowie medikamentöse und Gesprächs- und nicht sprachliche Therapien. Im Interview spricht Dr. med. Marc Risch über seine Erfahrungen.

Welche Bedeutung hat die Behandlung von schweren Depressionen in Ihrer Klinik?

Dr. med. Marc Risch: Wir konzentrieren uns im Clinicum Alpinum ausschliesslich auf die Behandlung von Menschen mit mittleren bis schweren Depressionen. Dazu zählt der Diagnosebereich der affektiven Störungen (ICD-10 F3)sowie neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (ICD-10 F4), da bei den Depressionen in einem hohen Mass Überschneidungen mit anderen Störungen vorliegen, insbesondere in den Bereichen von Angst, Zwang und Panik. Die Patienten begleiten wir intensiv während 8 bis 12 Wochen. Die Konzentration unserer Klinik auf Depressionen hat damit zu tun, dass Spezialisierung zu Professionalisierung führt. Diesen Trend gibt es in der somatischen Medizin seit Jahrzehnten. In der Psychiatrie hingegen entwickelt sich eine konsequente Spezialisierung historisch bedingt sehr zaghaft. Wir sehen uns mit unserer Fachklinik deshalb in der Tradition der Spezialisierung in der somatischen Medizin und hoffen auf Nachahmer, sehen uns aber nicht als Konkurrenz, vielmehr als belastbaren Behandlungspartner für die Grundversorgungspsychiatrie und weitere Spezialdisziplinen unseres Fachgebiets.

Welchen Stellenwert hat die pharmakologische Behandlung bei der schweren Depression?

Dr. med. Marc Risch: Es ist wichtig, dass wir nicht in Schubladen denken und vorschnell ausschliesslich pharmakologisch behandeln und «mal schauen, wie weit wir kommen». Es geht vielmehr um den Dreiklang von pharmakologischer, sprach- und nicht sprachbezogener psychotherapeutischer und körperbasierter Behandlung. Studien sagen zwar, dass bei schweren Depressionen die pharmakologische Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie – KBT – State-of-the-Art sind. Das hat aber auch damit zu tun, dass die KBT gut beforscht ist. Zu systemischen und tiefenpsychologischen sowie nichtsprachlichen Therapieformen gibt es hingegen wenig belastbare quantitative Studien, jedoch ausreichende Erkenntnisse aus dem qualitativen Kontext. Wenn wir über Psychotherapie reden, meinen wir deshalb implizit auch die nicht sprachbezogenen, das heisst die körperbezogenen Therapien. Antidepressiva sind bei mittelgradig bis schweren Depressionserkrankungen deshalb wichtig, weil diese das sogenannte «Window-of-opportunity», das Fenster zu den therapeutischen Möglichkeiten, öffnen. Sie sind zu verstehen wie eine Gehhilfe, die unterstützt, vom liegenden wieder in den stehenden Zustand zu gelangen, um später ohne Stützen psychotherapeutisch weiterarbeiten und Fortschritte machen zu können.

Welchen Stellenwert hat Agomelatin in der Behandlung der Depression?

Dr. med. Marc Risch: Agomelatin hat seine Berechtigung als First-line-Medikament in der Behandlung der Depression insbesondere dann, wenn die Schlafqualität eingeschränkt und Erschöpfung eingetreten ist und kognitive Phänomene wie gedankliche Probleme und Konzentrationsstörungen vorhanden sind. Zu beachten ist zudem die Wirksamkeit und Akzeptanz eines Medikamentes. Die jüngste Metaanalyse von Cipriani et al. zeigt, dass Agomelatin in Bezug auf die Akzeptanz bei Patienten an erster Stelle steht. Es ist auch ein optimaler «Behandlungspartner» bei Patienten, die über eine grosse Sensibilität oder ein Vegetativum verfügen, das schnell auslenkt. Diese Phänomene werden als «somatisches Syndrom» der Depression beschrieben. Dazu gehören Symptome wie innere Unruhe, Schwitzen, Übelkeit, Magen-Darmbeschwerden, Kribbelparästhesien, Schmerzen oder/und Schwindel. Wir geben Agomelatin bei Bedarf schnell und erhöhen rasch bis zur Maximaldosis von 2 × 25 mg am Tag. Zu Behandlungsbeginn sind wir häufig im täglichen Kurzkontakt mit den Betroffenen. Wenn der Patient nach 3 bis 5 Tagen sagt, dass er einen Effekt spürt, arbeiten wir bei Erhalt dieser Dosis intensiv psychotherapeutisch weiter. Sagt jemand, dass es schlimmer wird, er das Gefühl habe, es liege am Medikament, schreitet eventuell die Erkrankung fort und zur Stabilisierung muss ein weiteres Medikament gegeben werden. Kommunikation und engmaschige Begleitung sind gerade zu Behandlungsbeginn am wichtigsten.

Hat es Depressionsformen, die speziell gut auf Agomelatin ansprechen?

Dr. med. Marc Risch: Agomelatin eignet sich prinzipiell bei allen Depressionsformen, aber insbesondere dort, wo eine Komorbidität vorhanden ist, beispielswiese bei Patienten mit nicht organisch bedingten Insomnien im Zusammenhang mit Affekt, Stress oder bei ADHS, die sich leer und ausgeprägt freudlos fühlen und ihre Gedanken nicht mehr sammeln können.

Können Sie ein Beispiel geben?

Dr. med. Marc Risch: Frauen mit Kindern stecken oft in schwierigen Belastungssituationen,die problematisch sind, weil sie wenig Entscheidungsspielräume lassen. Ich habe dies im Rahmen des Impulsreferates anhand des Beispiels einer «quirligen Mutter» beschrieben, die die eigenen Bedürfnisse bis zum «emotionalen Motorschaden» ausgeblendet hat. Diese Patienten sind oftmals über einen längeren Zeitraum sehr müde, haben Ängste, sind unruhig, können die Gedanken nicht abschalten, werden dünnhäutig. Es liegen häufig Abhängigkeiten wie die Pflege eines Elternteils oder Teilzeitbeschäftigung vor. Hinzu kommt das Problem, dass die Behandlung von Depressionen bei Frauen noch wenig beforscht ist, insbesondere in Bezug auf die medikamentöse Therapie oder im Zusammenhang mit hormonellen Veränderungen. Mit Agomelatin hat man einen Player am Start, bei dem man sich darauf verlassen kann, dass deutlich weniger Nebenwirkungen zu erwarten sind, was die im Einzelverlauf vorübergehend durchaus notwendige Substanzkombination erleichtert.

Wie häufig kontrollieren Sie die Transaminasen?

Dr. med. Marc Risch: Leberschäden sind unter Agomelatin äusserst selten. Diesbezüglich zeigt eine neue Studie, dass die Nebenwirkungen in der gleichen Häufigkeit auftreten, wie bei den klassischen Antidepressiva. Bei schweren Depressionen wird jedoch häufig zweigleisig gefahren, sodass sich die Nebenwirkungen potenzieren können. Insofern denke ich, dass es unbedingt sinnvoll ist, gemäss den Swissmedic-Vorschriften vor der Behandlung die Transaminasen zu kontrollieren und auch im Behandlungsverlauf. Ich rate auch dazu, die Eintrittsabklärung für eine Crossover-Untersuchung zu nutzen und weitere Erschöpfungsparameter abzuklären, wie Vitamin B12, Vitamin D, Eisen und Folsäure. Zudem gehört ein kleines Blutbild dazu, die Abklärung der Nierenfunktion und des Schilddrüsenstatus speziell auch bei Frauen und das C-reaktive Protein, welches auf entzündliche Prozesse, die weiter internistisch abgeklärt werden sollten, hinweisen kann.

Was werden die Herausforderungen im Fach Psychiatrie für die nächsten Jahre sein?

Dr. med. Marc Risch: Es bilden sich zwei Trends ab, die für die Zukunft betrachtet ungünstig sind: Die psychischen Erkrankungen werden weiter zunehmen, insbesondere die Affekterkrankungen. Das hat insbesondere mit den zwei Treibern Vereinsamung und Verstädterung zu tun. Zudem werden wir schlicht immer mehr Menschen, sodass auch die Erkrankungen in der Summe mehr werden. Im Fach Psychiatrie sehen wir ein grosses Nachwuchsproblem wie der Kinder- und Jugend- als auch der Alterspsychiatrie. Das bedaure ich sehr, denn als eines der letzten Fächer haben wir als Psychiater die Möglichkeit mit tiefsinnigen Menschen zusammenarbeiten zu können. Denn: Depression bedeutet der Wortbedeutung nach «Tiefsinn». Wir werden also dafür entschädigt, dass wir Patienten helfen, ihr Problem und ihre Eigenanteile an der Problementstehung und -unterhaltung anzuerkennen und neue selbstwirksame Wege zu beschreiten. Als Fachärzte ist es an der Zeit, sich gesundheitspolitisch auch für Mental-Health-Themen zu engagieren. Denn unsere depressiven Patienten können dies nicht!

Interview mit Dr. med. Marc Risch als PDF (Schweizer Zeitschrift für Psychiatrie und Neurologie 04/2019)

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