Corona-Nachwehen

Dr. med. Marc Risch über die bunte Symptomatik von Long Covid – eine multiperspektivische Betrachtung

„Long Covid“ – das sei nichts anderes als ein postvirales Müdigkeitssyndrom und näherungsweise mit einer Fatigue zu vergleichen, sagen die einen. Andere „frotzeln“ hinter vorgehaltener Hand, dass es sich bei „Long Covid“ um etwas Neurotisches handeln müsse: Ein virusgetriggertes Burnout, eine Art von COVID-Konversionsneurose. Wiederum andere postulieren, dass die Symptome von Long Covid psychopathologisch in der Nähe einer Depression mit somatischem Syndrom lägen. Long Covid – einfach eine „Restkategorie“, ein „Sammelbecken“ für all diejenigen, die nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 und einer zehn-Tages-Quarantäne (Anm.: ein Oxymoron erster Klasse ;-)) behördlich genesen sind, sich aber so gar nicht danach fühlen (wollen) und noch einen mehr oder weniger langen, rehabilitativ orientierten Genesungsweg vor sich haben? Long Covid – ein deskriptiver Begriff, der Symptomcluster umfasst, die unter Berücksichtigung eines nicht näher definierten Zeitkriteriums in mittelbarem oder unmittelbarem Zusammenhang mit einer SARS-CoV-2-Infektion stehen? Das wäre eine eher versachlichte Annäherung.

In Fachkreisen wird Long Covid heute dahingehend verstanden, dass explizit diejenigen Verläufe mit umfasst sind, die trotz fehlender Intensivpflichtigkeit nach einer eher milden oder gar „stillen“ Akutinfektion und einem oft zu sehenden freien Symptomintervall durch interindividuell sehr unterschiedliche Symptome die Betroffenen bei den alltäglichen Lebensverrichtungen, beeinträchtigen.

Dieser Gastbeitrag versucht eine multiperspektivische und beschreibende, nicht abschließende Betrachtung von Long Covid. Zahlreiche Aspekte dieser komplexen, chronisch anmutenden Systemerkrankung und ihrer „bunten“ Symptomatik sind noch nicht abschließend verstanden. Der Beitrag will auch einen Impuls geben, den medikollegialen Austausch zwischen den verschiedenen medizinischen Fachrichtungen, die sich mit COVID auseinandersetzen, neu zu entfachen. Denn dieser ist in den letzten zwei Jahren nicht ausreichend gepflegt worden.

Heterogenes Beschwerdebild

Nach den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre kann festgehalten werden, dass es sich bei Long Covid um ein sehr heterogenes und individuell sehr unterschiedlich verlaufendes Beschwerdebild handelt. Der Wissenszuwachs, basierend auf den bereits vielfältig bekannten infektiologischen Erkenntnissen bezüglich anderer Viruserkrankungen, ist nach wie vor groß. Weitere Forschungen sind in den nächsten Jahren dringend nötig. Das gilt vor allem auch für die Zero-Covid-Situation, die wir alle herbeisehnen.

Die aktuellen Erkenntnisse legen von pathophysiologischer Seite her nahe, dass Long Covid, also die Langzeitauswirkungen einer SARS-CoV-2-Infektion, sich auf Gewebeebene als „Mikrogefäßentzündung“ mit Einfluss auf die Blutflusseigenschaften und mit Beeinträchtigung der Funktion der roten Blutkörperchen und damit auf die Sauerstoffversorgung der verschiedenen Organe auswirkt, aber auch direkte Beeinträchtigungen im Bereich des Neurocraniums vorhanden sein müssen. COVID ist, so trivial das klingt, also weit mehr als eine akute, die Lunge betreffende Erkrankung. Dieser Aspekt ist deshalb von Bedeutung, da wir zunehmend mit Kostenträgern konfrontiert sind, die ihre Leistungserbringung für Menschen mit Long Covid von einem schweren akutpneumologischen Verlauf abhängig machen. Dazu später.

Ausgeprägte Symptomschwankungen

Beeindruckend für Außenstehende und zermürbend für die Betroffenen sind die im zeitlichen Längsverlauf ausgeprägten Symptomschwankungen, die binnen kürzester Zeit zwischen fast vollständiger körperlicher und neurokognitiver Behinderung bei Alltagsverrichtungen und fast vollständiger Remission wechseln. Die Long-Covid-Symptomatik ist als „buntes Mischbild“ zu beschreiben. Die Beschwerden zeigen sich interindividuell in unterschiedlicher Stärke auf folgenden Achsen: neurokognitiv, muskuloskelettal und vegetativ.

Wichtig ist es, auch primäre und/oder sekundär-reaktive Effekte einzuordnen. Zu den primären Effekten zählen beispielsweise länger dauernde v. a. pulmonale oder Organbeeinträchtigungen anderer Art. Unter sekundär-reaktiven Effekten wird das Ausbilden von reaktiven psychischen Phänomenen verstanden. Hierzu gehören u. a. Angsterkrankungen, Zwangsphänomene, seltener auch Panikattacken. Getriggert werden psychische Reaktionen hauptsächlich durch die undulierend-schwankenden Verläufe und die Verunsicherung sowie Zukunftsängste der Betroffenen, welche damit verbunden sind. Ebenfalls häufig sehen wir Insomnien als Reaktionsbildung, wobei der Pathomechanismus hier auch als direkter Viruseffekt interpretiert werden könnte.

Auf der neurokognitiven Achse ist neben Beeinträchtigungen der Konzentration, der gerichteten Aufmerksamkeit, v. a. die verringerte Aufmerksamkeitsspanne, verbunden mit ausgeprägter Seh- und/ oder Hörsensibilität, häufig. Betroffene sprechen vom „Brain Fog“. Oft beklagen sie im sicheren Umfeld eines therapeutischen Settings, wie beschämend und bitter es für sie sei, einfachste Alltagstätigkeiten nicht mehr verrichten zu können oder Fehler bei Alltäglichem nicht selbst zu bemerken und somit nicht korrigieren zu können.

Auf der eher muskuloskelettalen Achse sind die als „Belastungsintoleranzen“ beschriebenen, oft schwerwiegenden, stark tagesabhängigen Bewegungs- und Leistungseinschränkungen sowie ein Gefühl der Kraftlosigkeit zu nennen. Nicht selten kommen tiefmuskuläre Schmerzen und eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit hinzu. Wichtig ist dabei, dass diese Symptomatik in der Regel nicht von einer affektiven Beeinträchtigung im Sinne der Symptomatik einer Erschöpfungsdepression begleitet wird. Ebenso häufig beobachten wir plötzlich auftretende Schwindelerscheinungen und/oder eine posturale Dysfunktion.

Übergeordnete Therapieziele

Die Behandlung von Long Covid ist mehr als eine einfache, einmalige stationäre und/oder ambulante Reha. Die „Anspruchsklammern“ an eine Therapie sind, dass es sich um hochflexible, lang angelegte und v. a. integrierte und fraktionierte Intervallbehandlungen handeln muss. Die Integration verschiedener anwendungs- und aktivitätsorientierter Therapien aus den Bereichen der physikalischen, muskuloskelettalen (CAVE: Durch die ausgeprägte Leistungseinschränkung wird Gewichts- und Muskelmasse abgebaut!) und der neurorehabilitativ orientierten Medizin ist wichtig. Übergeordnetes Ziel sind der Erhalt und die Besserung der körperlichen und kognitiven Funktionen durch u. a. „Pacing“,eine physiotherapeutisch basierte Bewegungstherapie. Wichtig sind darüber hinaus körperbezogene Anwendungen (sanfte Massagen, Wassertherapien, Infrarot-Anwendungen, Einreibungen etc.) sowie ein psychoedukativer Fokus, um die Angst zu reduzieren und die antiinflammatorische Kompetenz zu stärken. Die medikamentöse Unterstützung ist nach wie vor sehr „symptomatisch“ orientiert. Bei der Wahl einer klassischen und/oder phytotherapeutischen Medikation sollten Arzneimittelnebenwirkungen und Unverträglichkeiten sorgfältig berücksichtigt und Präparate ausgewählt werden, die neben ihrem Haupteffekt auch antiinflammatorisch wirken. Wenn die Therapie in einer reizarmen und naturnahen Umgebung stattfinden kann, kommt dies den krankheitsbedingten Bedürfnissen von Long-Covid-Patientinnen und -Patienten sehr entgegen. Wenn es erfahrene Therapeuten und Fachpflegende schaffen, die stark tagesabhängigen Symptomschwankungen und Bedürfnisse der Betroffenen schnell zu erfassen und flexibel darauf zu reagieren, ist dies für den Erhalt bzw. den langsamen Wiederaufbau der körperlichen und neurokognitiven Funktionen hilfreich. Etwas technischer ausgedrückt: Es geht darum, Symptome zu reduzieren, die Mikroentzündung zu minimieren und die allgemeine Stoffwechsellage zu optimieren.

Soziale Sicherungssysteme sind gefordert

Bis wir weltweit Zero Covid erreicht haben, gilt: Jede verhinderte (Re-)Infektion senkt das Long-Covid-Risiko. Bis dahin ist die sprichwörtliche Vorsicht die Mutter unserer Lebensporzellankiste. Vorsicht allein wird nicht ausreichen. Die Staatengemeinschaft, Fachleute aus Medizin und Politik weltweit müssen nun dafür sorgen, dass jeder Mensch Zugang zum Impfschutz erhält. Entwicklungshilfe muss an diesem Punkt neu gedacht werden.

Auch Arbeitgeber, Krankenversicherungen und die sozialen Sicherungssysteme sind sehr gefordert, ihre beruflichen Integrations- und Pensionierungsprozesse an die Realität von Long Covid anzupassen. Hierbei geht es im Wesentlichen darum, dass Betroffene von einer antizipierten Berentung profitieren können sollten. Dafür wird es notwendig sein, die Last von den Arbeitgebern zu nehmen und sie zum motivieren, den Mitarbeitern die berufliche Integration zu ermöglichen, auch wenn Long Covid im Unterschied zu anderen Krankheiten eher länger andauern dürfte. Am wichtigsten ist es, dass wir der Opfer dieser Pandemie ehrenvoll gedenken, der emotionalen Aufarbeitung des subjektiven Pandemie-Erlebens ausreichend Raum geben und uns dabei dessen bewusst bleiben: Zeit heilt.

Vor einem Jahr unterhielt sich Dr. med. Marc Risch in einem Gespräch über Long Covid und die damit verbundenen Herausforderungen. Klicken Sie hier, um das Video abzuspielen.

 

 

Der Artikel als pdf, publiziert von der Hausärtz:in Zeitschrift vom März 2022, geschrieben von Dr. Marc Risch FA f. Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Praktischer Arzt, Chefarzt Clinicum Alpinum finden Sie hier.

 

Gleichzeitig zu diesem Artikel wurden in der Hausärtz:in Zeitschrift vom März 2022 die folgenden Beiträge veröffentlicht.

„Belastbare Evidenz aus Studien fehlt“ von Dr. Florian Ardelt (Hausarzt in Marchtrenk, OBGAM-Präsident),  Mag.a Monika Aichberger (Vizepräsidentin der OÖ Apothekerkammer) und Dr. Erwin Rebhandl (Gesundheitszentrum Hausarztmedizin Plus in Haslach).

„Verlust des Geruchssinnes als verlässliches Frühsymptom“ von Dr. Johannes Frasnelli (Professor für Anatomie und Geruchsforscher in Quebec)

„Die psychosoziale Pandemie wird die virale Pandemie überdauern“ von Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek (Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit)

 

 

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