«Corone richten und weitermachen»

Michaela und Marc Risch vom Clinicum Alpinum auf Gaflei sprechen über gesellschaftliche Auswirkungen des Coronavirus.

Das Coronavirus rüttelt den Alltag der Menschen mächtig durch. Was macht dies mit uns als Gesellschaft?

Michaela Risch: Eine schwierige Frage. Mein Eindruck ist, dass die Gesellschaft bei Krisen und Katastrophen in recht stereotype Verhaltensmuster fällt und Spaltungen passieren – im Kleinen und im Grossen.
Marc Risch: Wenn mein Nachbar, was er natürlich nicht gemacht hat, mit einem Kofferraum voll Klopapier heimkommt, er sein Jagdglück breit grinsend über den Gartenzaun dartut und ich im Laden keine Rolle für mein Tagesgeschäft mehr bekomme, dann finde ich das be*******. Wenn aber menschliches Verhalten durch Behörden reguliert werden muss, um Schaden für die Bedürftigsten, im aktuellen Fall die Infektion von älteren und/oder erkrankten Mitmenschen abzuwenden, dann muss man sich Fragen bezüglich des Angstverhaltens und der Angstkompetenz stellen.
Michaela Risch: Mir fallen gegenwärtig drei typische Verhaltensweisen auf. Selbstbezug der einen Gruppe, die sich sagt: «Ich schaue nur auf mich!» Die selbstlosen Helfern der 2. Gruppe, die sich zuweilen als «unkaputtbar» einschätzen und sich durch diese Selbstüberhöhung unbemerkt in Gefahr bringen können. Und 3. den Reflex, dass es am Ende dann halt doch «Schuldige» braucht – dies lässt vielleicht die emotional aufgeladene Stimmung derzeit erklären. Wichtig ist: Der Schuldige an der derzeitigen Herausforderung – so es ihn denn überhaupt gibt – hat mit der Problemlösung jedoch nichts zu tun.
Marc Risch: Ja, und dann ist es für westliche Gesellschaften natürlich ungewohnt, wenn der Staat eingreift – was aktuell einfach notwendig, sinnvoll und wirksam ist.

Während manche Menschen der Panik verfallen, nehmen es wiederum andere völlig auf die leichte Schulter. Wie sind solche Unterschiede zu erklären?

Marc Risch: Das Coronavirus in seiner jetzigen Form ist etwas Unbekanntes, Neues. Die Frage stellt sich, wie reagiert ein Mensch, wenn er sich vor etwas Unbekanntem ängstigt? In solchen Fällen neigen wir dazu, in drei verschiedene Grundreaktionsweisen zu verfallen: sich totstellen («Vogelstrausspolitik»), Fight- or Flight-Reaktionen.
Michaela Risch: In Bezug auf das Coronavirus bedeutet dies, dass einige unserer Mitmenschen die Gefahr einfach aussitzen, ohne etwas Grosses zu unternehmen. Andere fliehen vor der Gefahr, indem sie Menschenmengen meiden, Reisen stornieren und sich zu Hause isolieren, und der Rest sagt dem Virus in unterschiedlicher Form den Kampf an. Diese drei Verhaltensmuster sind als mögliche unmittelbare Reaktion auf Bedrohungen in uns angelegt – welcher Reaktion wir eher folgen, hat mit gemachten Erfahrungen zu tun. Somit lassen sich die unterschiedlichen Reaktionen auf die aktuelle Situation erklären.

Was raten Sie, wie der Einzelne damit umgehen soll?

Marc Risch: Es gilt, ganz einfach die Empfehlung der zuständigen Experten Ministerien und Fachleute in den Krisenstäben zu beherzigen und konsequent umzusetzen. Handhygiene, Nies- und Hustenetikette einzuhalten und Kontaktanlässe rigoros zu reduzieren, um das eine Ziel, die Infektionsübertragungsgeschwindigkeit zu senken, beziehungsweise die Ausbreitung des Coronavirus so gut wie möglich zu verlangsamen und damit eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern.

Immer mehr Menschen müssen sich in Quarantäne begeben. Was macht dies mit den Menschen aus psychologischer Sicht?

Marc Risch: Es gibt dazu keine einfache Antwort. Wichtig ist aber, dass diese Massnahmen seitens der Behörden wohl abgewogen und zeitlich beschränkt und deren Aufrechterhaltung laufend überprüft und entschieden wird, ob es gleich wirksame, aber mildere Massnahmen gibt.
Michaela Risch: Wir haben hier auch ein sprachpsychologisches Phänomen. Quarantäne suggeriert etwas «Gefährliches». Übersetzt heisst es doch einfach: «Von dir geht derzeit eventuell ein Risiko aus – also bleib bitte zu Hause!»
Marc Risch: Es geht bei diesen Massnahmen ja nicht darum, dass jemand eingesperrt wird – da wird oft viel zu viel hineinfantasiert.
Michaela Risch: Es stimmt aber schon, dass Menschen eher darauf «programmiert» sind, sich in sozialen Gruppen wohler zu fühlen. Wir sind soziale Wesen. Früher haben wir uns in Stämmen organisiert, um gegenüber Feindseligkeiten anderer Stämme gewappnet zu sein. In der gegenwärtigen Situation sollen wir diese Idee verlassen und dazu noch gegen einen nicht sichtbaren Gegner alleine kämpfen. Soziale Isolation und Einsamkeit ist unabhängig von Corona ein grosses Problem. Kurz gesagt: Begeben wir uns für längere Zeit in eine Isolation, so handeln wir entgegen dem, was wir evolutionär gelernt haben. Das bringt uns durcheinander.

Wie lässt sich eine Vereinsamung vermeiden?

Marc Risch: Vereinsamung lässt sich nicht vermeiden. Sie ist ein Zeitphänomen und hat verschiedene Hintergründe. Derzeit sollten wir uns bewusst machen, dass wir über moderne Kommunikationsmittel in Echtzeit sogar mit bewegtem Bild kommunizieren können. Das ersetzt den physischen Kontakt nur zum Teil. Wir sind heute aber in der Lage, «fernmündlich» mit einsamen Menschen in Kontakt zu sein und damit vorübergehend zur emotionalen Stabilisierung beizutreten. Viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Verlässlichkeit der Kontaktnahme. Wir sind derzeit in regem Kontakt mit betagten Menschen via Telefon oder wir machen Hausbesuche.

Was bedeuten solche Ausnahmesituationen für ohnehin psychisch angeschlagene Menschen?

Michaela Risch: Dies lässt sich nicht verallgemeinern. Aus unserer Erfahrung der letzten Tage sehen wir durchaus besorgniserregende aber gemeinsam lösbare Aufgaben von Menschen, die bereits jetzt in der Einsamkeit leben und in ihrer sozialen Teilhabe durch die nun auf uns zukommenden Massnahmen eingeschränkt werden. Selbstredend ist die allgemeine Verunsicherung in solchen Zeiten gerade für psychisch erkrankte Menschen eine besondere Herausforderung. Die ergriffenen Massnahmen, welche notwendig sind, treffen Menschen mit psychischer und/oder körperlicher Vorerkrankung noch stärker als die restliche Bevölkerung. Eben darum müssen wir dafür sorgen, dass die
Empfehlung der Behörden konsequent befolgt werden.
Marc Risch: Was uns in diesen Stunden beschäftigt, ist, dass viele Tageseinrichtungen und Ambulanzen ihren Betrieb umstellen, sodass wichtige Anlaufstellen für die Betroffenen eingeschränkt werden. Aber auch für dieses Themenfeld wird, wenn wir zusammenhelfen, eine Lösung zu finden sein. Jetzt geht es darum, konsequent die Infektionsübertragungsgeschwindigkeit zu verringern, das hat oberste Priorität.

Sie betreiben eine Klinik – wie kann man sich derzeit den Betrieb dort vorstellen?

Marc Risch: Das wollen Sie im Detail nicht wissen. Was ich aber sagen kann, ist: Wir setzen die Vorgaben der Regierung genaustens um. Dazu haben wir natürlich auch unsere Abläufe anpassen müssen – unser klinikinterner Krisenstab tagt täglich und wir haben eine besondere Verantwortung, unsere Patientinnen und Patienten mit Informationen zu versorgen. Wie in anderen Betrieben auch haben wir alle Mitarbeitenden, welche aufgrund ihres Jobprofils die Möglichkeit haben, Remote von zu Hause aus zu arbeiten, ab sofort nicht mehr in der Klinik, sondern zu Hause. Wir müssen, um die Gesundheitsbetriebe am Laufen zu halten, auch dafür sorgen, dass die Fachkräfte
gesund bleiben, deshalb sind derzeit diejenigen Mitarbeitenden der Services und Behandler im Haus, die am Patienten arbeiten.
Michaela Risch: Am Ende des Tages ist es einfach. So wie vor Corona auch. Wer hustet und Fieber hat, bleibt daheim. Tatsache ist aber, dass die Gesundheitsbetriebe derzeit ihren Mitarbeitenden viel abverlangen. Dafür gebührt ihnen grosser Dank.

Inwiefern kann die Situation als Chance für die Gesellschaft genutzt werden?

Marc Risch: Das können wir erst beurteilen, wenn diese Herausforderung gemeinsam gemeistert ist. Die aktuell entstehenden Spontanhilfen sind beeindruckend. Inwiefern wir einen gesamtgesellschaftlichen, vor allem aber auch nachhaltigen Lerneffekt erleben, kann ich nicht beurteilen. Ich bin da leider nicht so hoffnungsvoll, wenn man stattgehabte Krisen und die «lessons learned» analysiert. Interindividuell denke ich aber schon, dass viele Menschen ihren Wertekompass um ein paar Grad anpassen werden. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis. Für Michaela und mich waren es schwierige Tage, wir haben viel überlegt und wir haben die Emotionen auch vor unseren Nächsten, unseren Familien und den Mitarbeitenden, versteckt. Unseren Eltern sagen zu müssen, dass sie auf sich aufpassen sollen und wir aktuell den Kontakt reduzieren, schmerzt. Unsere Kinder derzeit bei der Schwägerin und den Cousinen zu wissen – dafür sind wir unendlich dankbar. Dennoch zerreist es dir das Herz. Es ist ganz einfach: Es geht darum, diese Infektion aufzuhalten. Darum «Corone richten – weitermachen!»
Michaela Risch: Das Virus treibt uns zwar physisch gesehen für ein paar Tage, vielleicht Wochen auseinander, bringt uns aber genau dadurch in den Klein- und Kleinstsystemen Familie und Freundeskreis, aber auch unter den Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz doch enger zusammen.

Sind Hamsterkäufe eine Konsequenz der Angst?

Marc Risch: Wir alle kennen den blauen Elefanten, an den wir nicht denken sollen. Je mehr wir über Hamsterkäufe Berichterstatten, desto mehr sehen wir diese, desto mehr beklemmen sie uns und desto mehr Hamsterkäufe werden «getriggert». Es besteht in unseren Breiten kein Grund, Angst vor Unterversorgung mit Lebensmitteln oder, entschuldigen Sie den Ausdruck, «Scheisspapier» zu haben. Das ist die rationale Ebene – wir sind aber durch unsere alten Programme darauf eingestellt, uns in schlechten Zeiten «Speck anzufressen». Vielleicht sind die Klorollen von heute der Speck von gestern.

Herr Risch, was ist Ihr medizinisch-psychiatrischer Rat für die nächsten Wochen?

Marc Risch: Es gilt, ganz einfach die Empfehlung der zuständigen Experten, Ministerien und Fachleute in den Krisenstäben zu beherzigen und konsequent umzusetzen. Handhygiene, Nies- und Hustenetikette einzuhalten und Kontaktanlässe rigoros zu reduzieren, um das eine Ziel, die Infektionsübertragungsgeschwindigkeit zu senken, beziehungsweise die Ausbreitung des Coronavirus so gut wie möglich zu verlangsamen und damit eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern.

Interview: Bettina Stahl

Vaterland, 18.03.2020 als PDF

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