«Das Aufwachsen ist ambivalenter geworden»

Jürgen Kühnis, Pädagogikprofessor und Wissenschaftler, erklärt im Interview welche Bedeutung der Perspektivenwechsel in der Bildungslandschaft hat. Er beantwortet die Frage, wie wir im Arbeitsalltag mit der Verantwortung für nachhaltige Entwicklung umgehen.

Jürgen Kühnis

Herr Prof. Kühnis, «Bildung für nachhaltige Entwicklung» (BNE), Ihr Vortragsthema am Symposium, ist Bestandteil des Lehrplan 21. Was verbirgt sich konkret dahinter?

Eine zeitgemässe Bildung muss Heranwachsende auf das Leben in der modernen Gesellschaft und globalisierten Welt vorbereiten. Die Schule ist ein zentrales Setting, um Lernende frühzeitig für nachhaltiges Denken und Handeln zu sensibilisieren und entsprechende Kompetenzen aufzubauen. BNE versteht sich dabei als fächerübergreifendes, interdisziplinäres Bildungskonzept, welches gesellschaftsrelevante Fragen ins Zentrum stellt und zu vernetztem Lernen, kritischem Beurteilen, vorausschauendem Denken und gemeinsamen Handeln befähigen soll. Für den Lehrplan21 wurden sieben fächerübergreifende BNE-Themen deklariert: Politik, Demokratie & Menschenrechte, Natürliche Umwelt & Ressourcen, Geschlechter & Gleichstellung, Gesundheit, Globale Entwicklung & Frieden, Kulturelle Identitäten & interkulturelle Verständigung, Wirtschaft & Konsum.

Nachhaltige Entwicklung hat eine solidarische Gesellschaft und wirtschaftliches Wohlergehen zum Ziel. Wieweit ist das bereits gelungen?

Wenngleich nachhaltige Entwicklung als idealtypisierte Schnittmenge der drei Zieldimensionen Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft veranschaulicht wird, scheinen ökonomische Anliegen heute immer noch am stärksten gewichtet zu werden. Die hohe Relevanz der natürlichen Ressourcen und biologischen Vielfalt bzw. der Folgen ihres Verlustes für unser Wohlergehen und die globale wirtschaftliche Entwicklung ist meines Erachtens im politischen und öffentlichen Bewusstsein immer noch zu wenig verankert. Hier besteht weiterer Aufklärungsbedarf.

Sie sind Dozent an der Pädagogischen Hochschule Schwyz. Was geben Sie Ihren Studierenden mit für ihre künftige Lehrtätigkeit im Hinblick auf das Thema Perspektivwechsel und ihrer Verantwortung für eine nachhaltige Entwicklung?

In der Aus- und Weiterbildungspraxis von Lehrpersonen ist es wichtig, ein Bewusstsein für die Zusammenhänge zwischen individuellen Lebensstilen und globaler Entwicklung zu schärfen. Hierzu müssen alltagsnahe, exemplarische Bezüge hergestellt werden, die vor allem auch mögliche Handlungsspielräume aufzeigen. In der Umsetzungspraxis in der
Schule ist es wichtig zu verdeutlichen, dass der globale Kontext keine entfernte Handlungsebene darstellt, sondern Bestandteil unseres täglichen Handelns (z. B. unsere Mobilitäts- oder Konsumgewohnheiten) ist. Konkrete Lerngelegenheiten in ausserschulischen Lernorten sind unabdingbar, um eine aktive Auseinandersetzung vor Ort und einen emotionalen Zugang aufzubauen.

Bildung soll den Menschen helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu reflektieren und auch zu finden. Vielen gelingt das nicht mehr ausreichend. Woran liegt dies aus ihrer Sicht?

Wir leben heute in einer sehr individualisierten und dynamisierten Gesellschaft. Das Aufwachsen ist vor allem für junge Leute ambivalenter geworden. Der enorme demografische und technologische Wandel sowie erhöhte Bildungsansprüche eröffnen einerseits neue Handlungsoptionen, bergen aber zugleich die Gefahr von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit.

Es macht in den verschiedensten Lebenssituationen immer wieder Sinn, die Perspektive zu wechseln. Doch das ist nicht ganz einfach. Was empfehlen Sie als Pädagoge und Wissenschaftler?

Eine mehrperspektivische Betrachtung hilft uns einerseits die Komplexität eines Sachverhalts sowie unterschiedliche Interessen und Einstellungen besser einordnen zu können. Für eine ganzheitliche Sichtweise ist wichtig es anthropozentrisch-gefärbte Gedankenmuster zu verlassen und sich als Teil der Welt zu verstehen. Eine solche Wahrnehmungskultur scheint in unserer hochgradig individualisierten Gesellschaft jedoch noch nicht im erwünschten Masse vorhanden zu sein.

Dürfen wir Sie fragen, wer Sie in Ihrem Leben privat oder beruflich am meisten geprägt hat und welches Ihre nachhaltigsten, beeindruckendsten oder auch erschütterndsten Lernmomente waren?

In meinem familiären und sozialen Umfeld durfte ich eine unbeschwerte und sehr erfüllte Kindheit geniessen. In diesem Setting wurde auch mein Interesse für die Natur und unsere Bergwelt geprägt. Im Verlaufe der Schul- und Hochschulbiographie gab es mehrere Lehrpersonen, die mich durch ihren spannenden Unterricht inspiriert haben. Mein damaliger Professor und Mentor an der Universität Bern hat nicht nur meinen akademischen Werdegang begleitet, sondern war auch menschlich ein grosses Vorbild. In den letzten Jahren hat vor allem meine Rolle als stolzer Vater von zwei Söhnen zu einem mehrfachen Perspektivenwechsel geführt – für diese vielfältigen Lernmomente bin ich meiner Frau und meinen Kindern sehr dankbar.

Interview mit Prof. Dr. Dr. Jürgen Kühnis als PDF

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