«Depression soll salonfähig werden»

Seit dem 1. April ist das Clinicum Alpinum auf Gaflei belebt. Klinikleiterin Michaela Risch über das Haus, Therapieformen und weshalb Burnout für sie keine Diagnose ist.

Kuhglockengebimmel, ein herrliches Bergpanorama, auf der Terrasse trinken Bauarbeiter ihren Morgenkaffee, alle sind per Du. Ist das hier oben gang und gäbe?

Michaela Risch: Ja, unter den Mitarbeitenden wie auch mit den Patienten herrscht das alpine Du. Das wird schon beim Eintrittsprozedere so vermittelt. Ab und zu kann es sein, dass der Therapeut zu Anfang noch die therapeutische Distanz, sprich das Sie möchte, um sich zu finden und kennenzulernen. Dass ein Patient etwas gegen das Du hatte, gab es noch nie. Im Gegenteil. Wir sehen uns ein wenig wie eine SAC-Hütte. Auch bei uns treffen Menschen unterschiedlichster Couleur und Nationalität aufeinander. Wir geben unseren Patienten für eine bestimmte Zeit Schutz und Geborgenheit wie auch Informationen und Hilfsmittel mit, damit sie sich nach ihrem Aufenthalt bei uns wieder selbstständig auf den Weg machen können. Neben der Patientenarbeit ist es unser Hauptanliegen, es zu schaffen, dass es für alle, die zu uns kommen, ebenso normal ist, wie wenn sie zur Knieoperation ins Landesspital gehen würden. Jeder, der kommt und dem es egal ist, ob man ihn hier oben sieht, bedeutet einen weiteren Schritt in die richtige Richtung. Deshalb haben wir im Vorfeld auch viele Veranstaltungen für die Öffentlichkeit angeboten.

Und doch ist es eine Psychiatrie …

Ja, wir sind ganz klar eine Psychiatrie, kein Medical-Wellness oder dergleichen. Im Clinicum Alpinum sind 700 Elemente verbaut, die schützen. An einer Depression erkrankte Menschen sind immer wahrnehmungseingeschränkt und müssen geschützt werden. Von der klassischen Psychiatrie unterscheidet uns, dass wir uns spezialisieren. Die Grundversorgerklinik muss sich um alle Krankheitsbilder kümmern – Demenz, Alkohol- und Drogensucht, Persönlichkeitsstörung, Depression, Schizophrenie. Wir sind eine Psychiatrie mit dem definierten Diagnosebereich Depression. In spätestens zwei, drei Jahren wird sie den Herzinfarkt als Volkskrankheit Nummer eins ablösen.

Heisst Privatklinik, dass nur Privatpatienten kommen können?

Nein. Das wird gerne missverstanden. Wir sind eine Privatklinik, weil wir privat finanziert sind, haben während der Bauphase und auch jetzt keinerlei Unterstützung vom Staat bekommen. Für die Psychiatrie in Liechtenstein gibt es weder einen Investitionszuschlag noch einen Landesbeitrag. Es ist eine reine Versicherungsleistung. Behandelt werden bei uns privat, halbprivat und allgemein Versicherte. Der allgemein Versicherte kann den Aufpreis selber bezahlen, was auch vorkommt. Die halbprivat und privat Versicherten können kommen, sobald die Kostengutsprache vorliegt.

Morgen kann das Clinicum Alpinum auf seine ersten 100 Tage zurückblicken. Wir bleiben gern beim alpinen Du: Wie fühlst du dich auf Gaflei, Michaela?

Gut! Wir sind zufrieden, gewöhnen uns langsam ans Gebäude und konnten mit einer wirklich guten Patientengruppe beginnen, die uns alles spiegelt, was nicht funktioniert. Was wir uns auf dem Papier überlegt haben, war natürlich genial (lacht). Unser Vorteil ist die schlanke Organisation, können aufgrund der schlanken Organisation rasch und direkt Anpassungen vornehmen. Seit 2013 waren wir mit Projektarbeit beschäftigt. Nun macht es Spass, das zu machen, was wir gelernt haben.

Durch die Fokussierung auf einen Diagnosebereich ist die Klinik in der Lage, die Behandlung für jeden Klienten individuell auszurichten. Welche Fachkräfte sind im Haus beschäftigt?

Zurzeit sind in der sprachbezogenen Therapie ein Psychiater und eine Psychosomatikerin beschäftigt, wir haben Psychologen, Coaches, einen Paartherapeuten, eine Sexualtherapeutin, in der nichtsprachlichen Therapie sind es Musik-, Kunst- und Bewegungstherapeuten. Klassisch kommt als drittes Element des «Dreiklangs» die Psychopharmakologie hinzu. Im Unterschied zu Grundversorgerkliniken sind wir in der Pflege reduziert, machen keine Millieutherapie sprich Gruppengespräche, Morgenrunden etc. Pflege heisst bei uns Betreuung, Gesellschaft, Ansprechpartner für den Patienten sein, gemeinsam Kaffee trinken, spazieren gehen, am Abend Karten spielen.

Es geht also um Selbstbeobachtung, Selbstreflexion und Eigenverantwortung – präventiv, aber auch während der Behandlung.

Absolut. Unser Fachgebiet hat ohnehin eine grosse Macht über die Patienten. Im Moment, in dem sich Menschen aufgrund psychischer Gebrechlichkeit einer Fachperson anvertrauen, sind sie oft sehr hilflos. Wir als Behandler müssen darauf achten, dass Patienten sich nicht von uns abhängig machen (lassen). Hilfe zur Selbsthilfe lautet das Motto, das mich und meine Frau während unserer Zeit beim Entwicklungsdienst prägte. Und so muss auch die Psychiatrie und Psychotherapie funktionieren. Wir begleiten Menschen auf einem Stück ihres Lebenswegs und geben ihnen das Rüstzeug dafür, künftig wieder selbstwirksam zu leben.

Im Vergleich zu anderen Kliniken ein innovativer Therapieansatz …

Regel Nummer eins lautet bei uns: Patiententermine und -anliegen gehen vor. Alles wird dem Patienten untergeordnet, was uns gut gelingt und worauf wir auch stolz sind. Das Therapieprogramm ist individuell gestaltet, pro Woche sind es zwischen 21 und 28 Einheiten. Wir haben keine Fünf-, sondern eine Sechs-Tage-Woche, d. h. auch am Samstag Programm. In den acht bis zwölf Wochen wird sehr komplex gearbeitet, was von den Patienten oft unterschätzt wird. Sich so intensiv mit sich selber auseinanderzusetzen, ist anstrengend. Mein Mann Marc und ich kommen beide aus der Grundversorgerklinik, haben, wie auch andere unserer Mitarbeiter, jahrelang in Pfäfers gearbeitet. Wir wollten einen anderen Ansatz ausprobieren, werden sehen, was funktioniert, was nicht und Ende Jahr Resümee ziehen.
Wie gut ist euch der Klient und seine Geschichte vor dem Eintritt in eure Klinik bekannt?
Nach der Anmeldung des Patienten gibt es unsererseits ein intensives Indikationsgespräch, welches in erster Linie mein Mann Marc Risch führt. Er fährt zum Zuweiser bzw. Patienten oder dieser kommt vorgängig zu uns ins Haus, um sich ein erstes Bild zu machen. Dann folgt die Indikationsstellung und wenn wir die richtige Klinik für ihn sind, erfolgt die Zuweisung zum entsprechenden Therapeuten. Dieser ist dann angehalten, aktiv auf den Vorbehandler zuzugehen, Vorberichte einzuholen im Sinne eines Dokumentenstudiums.

Bei euch werden Menschen mit schwerer Erschöpfungsdepression begleitet und behandelt. Burnout, Stressfolgeerkrankung, Depression – ist der Übergang fliessend?

Burnout ist für uns keine Diagnose – auch versicherungstechnisch nicht. Es ist ein mechanisches, einfaches Modell: Man arbeitet zu viel, deshalb ist man krank. Für uns ist Arbeit ein wichtiger gesunderhaltender Faktor. Ich glaube nicht, dass es die Menge der Arbeit ist, die krank macht, sondern Faktoren aus dem Umfeld. Wenn dann noch Beziehungs- oder finanzielle Probleme hinzukommen, baut sich das auf, eines kommt zum anderen. Das ist es, was krank macht. Im Endeffekt sind Stressfolgeerkrankungen der Auslöser. Die Bezeichnung Burnout ist der Versuch, die Krankheit Depression salonfähiger zu machen, was aber dem Patienten nicht hilft. Warum nicht einfach hergehen und sagen: Ich habe eine Depression.

Körper und Geist aus dem Stillstand der Depression zu bewegen und dabei den der Depression innewohnenden Tiefsinn verstehen und positiv zu nutzen, ist das Ziel der Klinik. Ein hoher Anspruch.

Wir bringen vielleicht nicht alle Patienten zu diesem Punkt, aber wir bringen sie wenigstens so weit, nach dem Aufenthalt bei uns – in dieser Zeit wird schon mit der Organisation der Nachbehandlung begonnen – ausserhalb ambulant an ihren Themen dranzubleiben. Das Clinicum Alpinum ist sozusagen die «Intensivstation für Depression». Wir sind dabei behilflich, ein aktives Netz aufzubauen, geben Empfehlungen, in welche Richtung weitergearbeitet werden sollte, dem Reinrutschen in alte Muster vorgebeugt werden kann. Die eigenen Tools sollen Schritt für Schritt wieder gefestigt werden.

Dr. Marc Risch, dein Mann, hielt vor Kurzem in Triesen einen Vortrag mit dem Titel «Von der Depression zum Tiefsinn». Wie offen ist die Bevölkerung?

Die Vorträge, die Marc hält, sind immer sehr gut besucht. Das Interesse ist zweifelsohne da. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Jeder Fünfte aus der Bevölkerung, d. h. 10 Prozent der Liechtensteiner, ist betroffen. Obwohl wir nie damit gerechnet hätten, sind auch einige Liechtensteiner Patienten bei uns. Das ist das grösste Kompliment und ein Zeichen für uns, dass es in die richtige Richtung geht.

Weltweit sind mehr als 300 Millionen Menschen von einer Depression betroffen. Tendenz steigend. Die fünf Hauptgründe?

Ich habe nur zwei: die Verstädterung und damit einhergehend die fehlende soziale Teilhabe.
Das Clinicum Alpinum verfügt über 48 Einzelzimmer und 2 Suiten. In der öffentlich zugänglichen Gaflei-Stuba sind Ausflugsgäste willkommen.

Wie steht es um die Privatsphäre der Patienten?

Wir arbeiten daran, dass Depression salonfähig wird, und so wollen wir die Patienten auch nicht komplett abschirmen. Ein Bestandteil der Therapie ist, dem Patienten klarzumachen, dass er sich wegen seiner Depression nicht zu schämen braucht. Restaurant und Terrasse, die als Sichtschutz noch bepflanzt wird, sind zweigeteilt. Der Patient hat die Möglichkeit, für sich zu bleiben. Angehörige halten sich im öffentlichen Bereich auf, die Patienten in ihrem. Mittlerweile haben wir es relativ gut im Griff, sind aber, wie teilweise auch die Patienten, noch etwas zwiegespalten.

Auf eurer Homepage ist von «heilender Architektur» zu lesen. Das Gebäude ist auf Holz, Lehm und Stein reduziert. Wie wichtig sind beim Heilungsprozess Umgebung und Grundstimmung im Haus?

Im Sinne einer ganzheitlichen Heilung darf das Thema Architektur im Gesundheitsbereich nicht vernachlässigt werden. Wenn sich der Mensch in der Umgebung wohl- und sicher fühlt, kann er viel besser genesen. Wir haben diesen Ansatz relativ gut umgesetzt und bewusst eine Holzfassade gewählt. Das Gebäude ist baubiologisch untersucht, Elektrokabel wurden abgeschirmt, es gibt einen Innenhof und durch lebende Substanzen holen wir die Natur ins Haus. Hinsichtlich Suiziden gibt es Studien, die beweisen, dass von Holzbrücken weniger oft gesprungen wird wie von Stahlbrücken, weil das Material lebt.

Auch du, Michaela, als kernige, robuste Tirolerin, bist dem (Arbeits-)Alltag ausgesetzt. Welches sind deine vorbeugenden Massnahmen, um nicht zu «erschöpfen»?

Arbeit ist für mich ein gesunderhaltender Faktor. Ich bin nicht obrigkeitshörig, habe mich relativ rasch für die Selbstständigkeit entschieden und habe den Riesenvorteil, gestalten und entscheiden zu können und mich nicht verbiegen zu müssen. Ich mache die Arbeit hier für mich bzw. uns. Auch im Abgrenzen bin ich relativ gut. Wenn ich über den Hügel runterfahre und bei der Haustür reingehe, dann bin ich Mama unserer achtjährigen Zwillinge. Bei Kritik an der Sache fühle ich mich nicht persönlich kritisiert, kann gut unterscheiden. Ein Ausgleich ist mein Hund – mehr wegen der Schwerkraft als wegen dem Stress (lacht). An den wenigen Tagen im Jahr, wo ich schlecht drauf bin, gönne ich mir den Luxus, zu Hause zu bleiben.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Clinicum Alpinum?

Ich wünsche mir, dass es für jeden – auch hier im Land – ebenso normal ist, hier heraufzukommen, wie wenn er ins Landesspital geht.

Interview: Gabi Eberle

Interview als PDF Interview Michaela Risch 30.06.2019
(LIEWO)

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