Weltweit sind mehr als 300 Millionen Menschen von einer Depression betroffen – Tendenz stark steigend. Ein aufmerksames Umfeld ist wichtig, damit sich Betroffene nicht völlig zurückziehen und unbemerkt leiden, wie Marc Risch im Interview erklärt.
Wenn Menschen sagen, dass sie sich «depressiv fühlen», bedeutet das dann, dass sie ernsthaft krank sind?
Marc Risch: Ernsthaft krank sind betroffene Menschen dann, wenn sie so sehr mit Symptomen belastet sind, dass sie grosse Schwierigkeiten haben, auch einfachsten alltäglichen Aktivitäten nachzukommen. Wenn Menschen sich «depressiv» fühlen und dies auch äussern, ist das ernst zu nehmen. Alsdann sind die konkreten Symptome genau zu analysieren und betreffend Schweregrad einzuordnen. Die Symptompalette für depressives Kranksein ist mannigfaltig und reicht von Gefühlen von Wertlosigkeit und Schuld über Antriebsverminderung bis zu Suizidgedanken. Es kommt aber auch vor, dass sich Symptome der Depression «körperlich» äussern durch Schmerzen, Schwindel, Unwohlsein und viele andere mehr.
Ist jemand, der sich ständig traurig fühlt, auch gleich depressiv?
Nicht ganz. Traurigkeit beziehungsweise trauern an sich ist ein wichtiger und sehr normaler Vorgang zur Verarbeitung von schwierigen Lebenssituationen. Die Depression äussert sich bei jedem Betroffenen unterschiedlich. Dabei steht häufig keine grosse Traurigkeit im Zentrum, sondern vielmehr das Gefühl der Empfindungslosigkeit. Trauer, Wut, Freude und Verzweiflung wirken abgeflacht. Erkrankte Personen fühlen sich wie in einer Art Blase und meinen, nie wieder Freude empfinden zu können – sie erleben sich zuweilen auch sehr einsam und «körperlich beschwert», beschreiben, dass das Leben sich auf einer Bühne vor ihnen wie hinter einem Schleier abspielt. Sie erleben sich hoffnungs- und freudlos. An Depressionen erkrankte Menschen sind häufig auch sehr «erfahren» darin, ihr Innenleben nach aussen zu verbergen. Ein aufmerksames Umfeld ist deshalb sehr wichtig.
Gibt es so etwas wie eine saisonale Depression oder eine «Winterdepression»?
Häufig verbindet man mit den dunklen und kalten Jahreszeiten das vermehrte Auftreten von Depressionen. Jedoch ist eine schwere Depression in den seltensten Fällen abhängig von Jahreszeiten. Wir sagen oft: «Einer Depression ist es egal, ob es schneit oder die Sonne scheint!» Hier sind andere Faktoren als viel gewichtiger zu bewerten. Beispielsweise sehen wir ein gehäuftes Vorkommen von reaktiven Depressionen eher am Anfang der grossen Sommerpause. Dann merken vor allem Menschen, die über eher weniger soziale Bindungen verfügen, dass sie wirklich sehr einsam sind, wenn «die Anderen» ihren vielen Freizeitaktivitäten nachgehen, in den Urlaub fahren, während sie selbst allein zurückbleiben und beispielsweise bei der Arbeit sozusagen sprichwörtlich «die Stellung halten».
Können auch Kinder und Jugendliche an einer Depression erkranken?
Ja, das kann vorkommen, wobei man hier genau hinschauen muss. Depressionen im Kindesalter sind selten und gehören in fachliche Hände von Kinder- und Jugendmedizinern und -psychologen. Der Einbezug des häuslichen Umfeldes, der Schule – also eine systemische Perspektive – ist hier wichtig. Eine Stigmatisierung durch eine unqualifizierte und oft zu schnelle Diagnosestellung ist hier dringend zu vermeiden. Was wir leider sehen, ist, dass im Rahmen der Pubertätsentwicklung bzw. der Adoleszenz Ängste, Verhaltensauffälligkeiten wie beispielsweise Essstörungen und Selbstverletzungen und auch Depressionen im Zunehmen begriffen sind. Auch hier gilt es, zurückhaltend zu sein mit vorschnellen Diagnosen.
Was sind die häufigsten Ursachen dafür, dass Kinder an einer Depression erkranken?
Eine einfache Antwort auf diese Frage ist schwierig. Wichtig ist, grundsätzlich zu wissen, dass wir dazu neigen, «monokausal» in Ursache-Wirk-Prinzipien zu denken und glauben, dass es «den einen Grund» für die Krankheit gibt. Hier ist das Bild des Tropfens, der ein Fass zum Überlaufen bringt, eventuell hilfreich, aber auch die Frage: Wie und warum hat sich denn das Fass so füllen können?
Und bei Erwachsenen?
Eine Depression hat – obwohl das häufig behauptet wird – auch hier selten eine einzige Ursache. Häufig führt ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren zu einer Erkrankung. Akute psychosoziale Belastungen, wie zum Beispiel der Verlust einer wichtigen Bezugsperson oder chronische Überlastungssituationen, können, müssen aber nicht zwingend Auslöser einer depressiven Episode sein. Sicherlich sehr wichtig sind sogenannte soziale Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Ausgrenzung oder Lebensveränderungen, wie eine Pensionierung. Auf dieser Ebene gibt es häufig Belastungsfaktoren, die eng mit dem Beginn oder im Zusammenhang mit dem Verlauf einer Depression zu sehen sind.
Tritt die Erkrankung familiär gehäuft auf?
Diese Frage nach der Genetik beziehungsweise ob eine Depression vererblich ist, wird häufig gestellt. Die Genetik spielt als Ursache einer Depression eine sehr untergeordnete Rolle. Viel wichtiger sind entwicklungspsychologische Faktoren im Sinne des Modell-Lernens. Unsere Kinder ahmen uns Erwachsene nach – auch wenn es darum geht, Probleme zu lösen. Positive Lernerfahrungen sind wichtig. Es kann aber eben auch Entwicklungen in Richtung einer erlernten Hilflosigkeit geben, wenn Kinder ihre Eltern unsicher und hilflos erleben. Es ist leicht vorstellbar, dass Kinder, die in einem eher depressiven Umfeld aufwachsen, eher depressive Verarbeitungsmodi erlernen. Hier gilt es, die Eltern beziehungsweise das familiäre Umfeld zu unterstützen. Man spricht hier von der sogenannten frühen Hilfe.
Wie wird sie behandelt?
Betroffene und Angehörige sollen Hilfe in Anspruch nehmen, um die Depression zu verstehen und zu behandeln. Eine moderne Behandlung ist eine Art «Dreiklang» aus sprachbezogenen Psychotherapieverfahren, nicht-sprachbezogenen Therapien wie beispielsweise Kunst-, Musik-, Bewegungstherapien und vielem anderen mehr sowie dem vorübergehenden Einsatz klug gewählter Psychopharmaka.
Wie können Freunde und Verwandte Betroffene unterstützen?
Kontraproduktiv sind Aussagen wie «Reiss dich zusammen», «Du hast keinen Grund, depressiv zu sein» und ähnliche. Das Umfeld kann Betroffene unterstützen, indem es zuhört, mitfühlt und auch aushält, dass die Situation für Betroffene nun einmal so ist und eine Behandlung durchaus auch Monate dauern kann.
Ist eine Depression denn heilbar?
Ja, – (lacht) und wie! Die Diagnosestellung und die daraus abzuleitende personalisierte Therapieplanung ist die entscheidende Grundlage für eine rasche und nachhaltige Genesung der Depression. In der Realität dauert die Zeit bis zur Diagnosestellung häufig noch zu lange. Betroffene schämen sich oft, mit ihren Symptomen einen Arzt aufzusuchen. Gleichzeitig fehlen spezialisierte Behandlungsplätze, sodass mit einer Behandlung erst nach zu langer Wartezeit begonnen wird.
Interview: Bianca Cortese
Bild: iStock
Interview mit Marc Risch als PDF
(Liechtensteiner Vaterland)
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