Aufgrund einer Praxisänderung des Bundesgerichts erhalten depressiv Erkrankte in der Schweiz und in Liechtenstein momentan kaum noch IV-Renten. Sie müssten neu erst beweisen, dass sie «therapieresistent» sind. Laut Recherchen der SRF-Sendung «10 vor 10» lehnen IV-Stellen mittelschwer depressiv Erkrankte fast durchs Band ab. Worum geht es konkret aus fachärztlicher Sicht?
Depression ist immer therapierbar
Einerseits ist es höchst erfreulich, dass mehr als zwei Drittel der Patientinnen und Patienten, die an Depressionen oder anderen affektiven Störungen leiden, wenn sie früh genug erkannt und behandelt werden, auch nachhaltig gesunden. Jedoch und dies ist bei anderen psychischen Erkrankungen vergleichbar, ist bei weniger als einem Drittel der Fälle aus verschiedenen Gründen keine endgültige Heilung möglich. Es bleiben Restsymptome, die den Alltag stark beeinträchtigen können oder die Erkrankung tritt im weiteren Lebensverlauf wieder auf. Für diese Menschen ist es wichtig, dass die sozialen Hilfswerke reibungslos funktionieren. Wenn nun ein Bundesgericht eine Depression als eher nicht rentenbildend einstuft, steht dies im Widerspruch zum medizintheoretischen und medizinischem Allgemeinwissen im Zustandekommen dieser Krankheit.
Diagnose nicht rentenbildend
Das schweizerische Bundesgericht hat vor vielen Jahren bereits einige psychiatrische Diagnosen als rentenbildend wegdefiniert. Dabei ist nicht die Diagnose rentenbildend, sondern die mit der Diagnose einhergehenden Funktionseinschränkungen. Hierfür hat man extra neben der internationalen Klassifikation psychischer Störungen, das sogenannte ICF, die internationale Klassifikation der Funktionseinschränkungen geschaffen. Leider fristet dieses Klassifikationsmanual ein «Mauerblümchendasein».
Zunehmende Oberflächlichkeit
Allein in den letzten 10 Jahren hat sich sowohl bei den Kostenträgern der Sozialen Werke, wie beispielsweise der IV, als auch bei den Krankenversicherern und hier insbesondere bei den Taggeldversicherern, eine zunehmende Härte und Oberflächlichkeit im Umgang mit psychischem Kranksein und der entsprechenden Falladministration und dringend benötigter Behandlungsleistungen eingestellt.
Depression gemäss WHO 2030 häufigste Erkrankung
WHO und Weltbank haben verstanden, dass die psychischen Erkrankungen stark zunehmen. Grosse Herausforderungen bestehen dabei auch in Bezug auf offensichtliche volkswirtschaftliche Schäden durch suboptimale Behandlung und «verschleppte» Verfahren bei den Kostenträgern. Gleichzeitig stellen wir die Tendenz fest, dass psychische Erkrankungen höchstens administriert werden wie ein Knochenbruch – dies funktioniert bei komplexpsychiatrischen Störungsbildern unter Berücksichtigung eines modernen Krankheits- bzw. Gesundungsverständnisses nicht.
Unabhängiges Case Management nötig
Seit mehreren Jahren stehen sogenannte Case Manager im Mandatsverhältnis oder im direkten Anstellungsverhältnis von sozialen Hilfswerken, wie beispielsweise der IV, aber auch den Taggeldversicherern und Krankenkassen. Ihre Aufgabe ist es, als Fallführer den Patienten aktiv bei der Lösung ihrer Probleme, welche allesamt krankheitsbildend oder -fördernd sind, zu helfen. In der Regel werden viele Fälle im Case Management jedoch eher administriert und aufgrund der erfolgsabhängigen Bewertung der Case Manager rasch abgeschlossen. Die Realität in der Psychiatrie ist oft eine andere. Hier bedarf es oft monatelanger Unterstützung durch verschiedenen Player. Erfahrene und hochmotivierte Casemanager sind hier zentral. Gerade in komplexen psychiatrisch und sozialpsychiatrischen Fällen sollte eher ein unabhängiges Case Management eingesetzt werden, das aktiv vorgeht, die Patienten vernetzt, integriert und vor allem auch psychologisch erfahren ist und sich mit adäquater Motivation psychisch Erkrankter auskennt.
Sensibilisierung der Behörden
Wir begegnen vielfach einer Haltung der Unzuständigkeit seitens der Behörden und der sozialen Werke. Nicht selten hören wir seitens der IV oder der Sozialämter, dass sie für bestimmte Fragen nicht zuständig sind. Es kann beispielsweise um die Kostenübernahme für ein Busticket zum Erreichen einer Stelle im zweiten Arbeitsmarkt (Arbeitstraining) gehen – oder aber um die Frage, wer für eine fünfköpfige Familie mit einem schwer behinderten Familienmitglied den Transport in die Schule übernehmen kann. Wir haben pro Woche bis zu vier Kontakte mit Patientenorganisationen, an welche wir problematische Entscheide seitens Taggeldversicherer, Krankenkassen, Gerichte oder anderer Stellen eskalieren, weil wir nicht mehr in der Lage sind, diese sozial-psychiatrischen Herausforderungen in unserer ambulanten Praxis zu bedienen. Diese Kultur der Unzuständigkeit führt dazu, dass gerade depressive Patienten systemgeschädigt und in die Chronizität getrieben werden. Die Behörden und die politischen Entscheidungsträger müssen dafür stärker sensibilisiert werden.
Mehr Mut zu Entscheidungen
Involvierte Stellen, wie Sozialämter, Invalidenversicherungen, Kinder- und Erwachsenenschutzbehörden ebenso wie Gerichte, beispielsweise das Bundesgericht, welche sich mit komplex sozialpsychiatrischen Fragestellungen auseinandersetzen, sollten wieder Mut zu Entscheidungen finden. Noch vor Jahren waren Amtsärzte 24 Stunden erreichbar und wurden durch rasche Entscheide der Richter unterstützt. Heute werden für jede noch so einfache Fragestellung Gutachten verfasst, die den allgemeinen forensisch-psychiatrischen Qualitätskriterien nur in seltenen Fällen genügen. Auch fehlt eine sinnvolle Abstimmung unter den Leistungsträgern im Gesundheitswesen. Wenn Patienten schwer erkranken und sie nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen gesunden, dann sind Probleme vorprogrammiert.
Bericht SRF zum Thema am: 7. September 2017, Claudia Badertscher
https://www.srf.ch/news/schweiz/keine-iv-renten-fuer-depressive-bundesgericht-will-reagieren
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