Eine Liechtensteiner Klinik leistet psychiatrisch-psychologische Hilfe bei Angst und Depressionen in der Corona-Zeit. Die Klinik befindet sich aber in einem Dilemma. Ein Grund dafür ist auch das Schweizer Gesundheitssystem.
Covid-19 stellte vielerorts die medizinische Versorgung vor fast unlösbare Probleme und brachte das Wirtschaftsleben beinahe zum Erliegen. Während die Versorgungsengpässe vor allem mit Blick auf die Intensivmedizin und die wirtschaftlichen Folgen dem Medienpublikum ständig vor Augen geführt wurden, blieben die psychischen Auswirkungen der Pandemie im Hintergrund. «Stress, Angst, Panikerkrankungen, Suchtverschiebungen und Psychosen haben in den letzten Monaten erheblich zugenommen», stellt Marc Risch fest. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie leitet zusammen mit seiner Frau das Clinicum Alpinum in Liechtenstein. Er weiss um die psychischen Probleme von Covid-19-Patienten, weil er Infizierte in den umliegenden Spitälern betreute. Während der Phase der rasch ansteigenden Infektionsraten richtete das Klinik-Team eine ambulante Beratungsstelle ein. Die Abläufe wurden so umgestellt, dass therapeutische Kontakte über sichere Schnittstellen, telefonisch oder per Videokonferenzschaltung, angeboten werden konnten. Damit konnten Anfragen auch an Wochenenden oder in der Nacht beantwortet und psychologische Hilfe geleistet werden. Dieses Angebot wurde laut Risch rege in Anspruch genommen, von Einzelpersonen, aber auch von Institutionen aus dem Sozialwesen und der Wirtschaft.
Von diffusen Ängsten geplagt
In der allgemeinen Wahrnehmung werden psychische Probleme oft als nachgeordnet an die medizinische Erstversorgung, zur Schadenabwehr und insbesondere zur Vermeidung von Todesfällen gesehen. Diese Einstellung hält Risch für falsch. Die langfristigen Auswirkungen der Corona-Krise müssten ganzheitlich aus einer körper- und seelenmedizinischen Perspektive betrachtet werden. Bei den Patienten selbst, die um ihre Gesundheit bangten, ebenso bei den Angehörigen, die oft von diffusen Ängsten geplagt würden, sei es möglich, dass die individuelle Resilienz ausreiche, ohne externe Hilfe wieder klarzukommen. «Diese diffuse Angst kann aber auch extrem stark auf die Psyche einwirken», betont Risch, «denn bei Covid-19 führen wir Krieg mit einem Gegner, den man nicht kennt.» Die Psyche werde aber nicht nur bei Covid-19-Patienten und deren Angehörigen auf die Probe gestellt. Stress, Erschöpfungszustände, Ängste oder Panikphänomene seien beim Pflegepersonal oder bei Pädagogen, insbesondere aber bei Teilzeitangestellten in den sozialen und helfenden Berufen, aufgrund der enormen Mehrfachbelastung feststellbar. Die wirtschaftliche Ungewissheit sei für viele Personen ein weiterer Krankheitsfaktor: Die Angst vor einem Jobverlust führe zu massiver Verunsicherung und könne die Entwicklung von Krankheiten begünstigen. Junge Menschen, die psychisch noch nicht gefestigt sind, könnten wegen Zukunftsängsten zu Drogen greifen oder Verhaltenssüchte entwickeln, weil sie während Wochen ihre gewohnte Gruppe nicht treffen konnten. Auch betagten und behinderten Menschen in Betreuungsstrukturen muss laut Risch künftig mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden: In der akuten Corona-Krise hätten sie zu wenig Beachtung gefunden und zudem unter Besuchs- und Ausgangsbeschränkungen gelitten.
Gleichbehandlung von Medizin und Psychiatrie
Negative Emotionen, Anspannung bis hin zu Aggressionen sind Verhaltensweisen, die auch ohne Corona in Ausnahmesituationen vorkommen. Aber die Covid-Krise lasse diese Verhaltensweisen verstärkt auftreten, begleitet von Gefühlen der Einsamkeit und der Ausgrenzung sowie Zukunftsängsten, unterstreicht Risch. Gegenwärtig und wahrscheinlich noch für einen längeren Zeitraum seien damit die Psychiatrie und die Psychologie speziell gefordert. Aber im Unterschied zur Medizin und zu den Massnahmen zur Stützung der Wirtschaft finde die Psychiatrie in der Öffentlichkeit wenig Beachtung. Für Risch ist die Gleichstellung von Körpermedizin und Psychiatrie ein bedeutsames Anliegen. Aus seiner Sicht werden nur beide Disziplinen zusammen kranken Menschen gerecht. Die geforderte Gleichbehandlung von Medizin und Psychiatrie besitzt aber auch eine wirtschaftliche Komponente. Obwohl bestens ausgerüstet zur Behandlung von Personen, die an Depressionen leiden, ist das Clinicum Alpinum trotz der Zugänglichkeit für allgemein, halbprivat und privat Versicherte derzeit nur zum Teil ausgelastet. Vom Hochplateau Gaflei, wo vor ungefähr 150 Jahren schon eine «Molken- und Luftkuranstalt» für internationale Gäste errichtet wurde, schweift der Blick auf die gegenüberliegenden Schweizer Berge – vom Calanda bis zum Hohen Kasten im Alpstein. Doch aus dem Nachbarland Schweiz kamen bisher nur wenige allgemein versicherte Patienten, obwohl dort Wartelisten in den psychiatrischen Spezialkliniken bestehen. Der Grund dafür liegt darin, dass die schweizerischen Krankenkassen den Kantonsanteil an Heil- und Pflegekosten nicht ins Ausland transferieren. Für allgemein und oft auch für halbprivat versicherte Patienten fallen damit hohe Kosten an, wenn bei einem mehrwöchigen Aufenthalt diese Anteile selbst getragen werden müssen.
Überregionale Gesundheitsversorgung stärken
Risch steht mit den zuständigen Behörden schon längere Zeit in Kontakt und strebt eine Gleichstellung seiner Klinik mit dem Liechtensteinischen Landesspital an. Für Patienten aus der benachbarten Schweiz, die im Landesspital behandelt werden, entrichten die schweizerischen Krankenkassen den vollen Beitrag. Aber eigentlich geht es ihm um mehr: «Wir müssen, das könnte eine Lehre aus der Corona-Krise sein, die überregionale Gesundheitsversorgung stärken, ganz besonders bei der Versorgung psychisch erkrankter Menschen.» Bis es so weit ist, befindet sich das Clinicum Alpinum, das erst vor rund einem Jahr eröffnet wurde, in einem Dilemma. Als neuer Anbieter im Gesundheitswesen ist die Klinik herausgefordert, einen Leistungsnachweis zu erbringen. Die durch Corona ausgelösten psychischen Probleme und Affekterkrankungen wie Depressionen, Angst, Zwang oder Panik würden dafür ein ausgezeichnetes Betätigungsfeld liefern. Die finanziellen Hürden für weniger betuchte Patienten, die sich die hohen Kosten für einen Klinikaufenthalt aus der eigenen Tasche nicht leisten können, stehen jedoch einer Vollauslastung und der Aufnahme von Patienten aus den umliegenden Ländern entgegen.
Der Artikel erschien in der NZZ (sowie NZZ online), am 1.Juli 2020, als PDF
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