«Long-Covid macht mir Sorgen»

«Long-Covid macht mir Sorgen». Dieser Aussage des US-Kardiologen John M. Mandrola kann sich der Autor aus eigener Erfahrung mit den ersten Long-Covid-Patienten am Clinicum Alpinum anschliessen; wir sehen als Behandler schwere post-Covid-Verläufe mit dramatischen Einbussen der körperlichen Leistungs- und psychischen Integrationsfähigkeit, können uns aber pathophysiologisch nicht alle Zusammenhänge erklären, geschweige denn, adäquat mit zielgerichteten Therapien beantworten.

von Michael Holzapfel, Dr. med., Co-Chefarzt Clinicum Alpinum Gaflei, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, FMH, Facharzt (D) für Psychosomatische Medizin, Dozent am Institut
für Humanwissenschaftliche Medizin, Zürich

Langzeitfolgen von SARS-COV-2: Ein düsteres Bild

Längst geht es nicht nur um «Kapazitätsgrenzen» und Intensivbetten der Akutspitäler. Es drohen nunmehr invalisierende Langzeitverläufe mit Prevalenzen von 15 – 20%, manche düsteren Prognosen sprechen gar von 40% neuropsychiatrischen Spätfolgen nach Covid-Infektion.
In dem amerikanischen Journal «The Atlantic» zeichnet die Editorin Meghan O´Rourke in einer sehr profunden und lesenswerten Recherche ein düsteres Bild über die Langzeitfolgen von SARS-Cov19, nicht unähnlich den dramatischen Spätfolgen von Ebola, in geringeren Ausmass auch von EBV.
Seriöse epidemiologischen Erhebungen sprechen aktuell von ca. 25% Long_Covid auf alle Covid-Infektionen bezogen. Das wären alleine in der Schweiz 250’000 bis 300’000 Fälle. Hinter jedem Einzelnen stehen dramatische Einbussen von Vitalität (ständiger Müdigkeit/Erschöpfung), Schaffenskraft (Reduzierte Arbeitsfähigkeit), Schlafstörungen, erschreckende kognitive Einbussen bis hin zur Invalidisierung. Noch ist unklar, ob die long-term-Verläufe nach Monaten wieder remittieren, oder Jahre, gar lebenslang (wie bei Ebola) anhalten können.

Durch diese Einschnitte werden wiederum schwere Angststörungen, oder auch depressive Erlebnisverarbeitungen ausgelöst, etwa im Sinne somatopsychischer Wechselwirkungen. Hier schaukeln sich regelrecht dysfunktionale sozio-psychosomatische Zirkel (Wellenbewegungen) auf, die aus soziologischer Perspektive das Zeug für einen „Tsunami“ haben, enorme Behandlungskosten und soziale Verwerfungen mit aggressivem Spannungsentladungen generieren können.

Ein Plädoyer für die integrative Medizin

Auch namhafte Infektiologen, wie Prof. Philip Tarr (Kantonsspital Baselland) müssen eingestehen, dass «die Infektiologie bisher sich zu lange auf den Spitalsektor beschränkt hat.» In einem nationalen Forschungsprogramm (NFP74) arbeitet er zusammen mit anderen Experten, u.a. der Soziologie und Komplementärmedizin zusammen. In seinem Plädoyer setzt er sich für eine integrative Medizin ein, die Infektiologen, Soziologen und Psychiater zusammen bringt.

Kehren wir zurück zu unseren «long-haulers» (amerik. Synonym für Long-COVID-Pat.); was brauchen sie?
Differentialindikation ist nun gefragt: was hilft wie, möglichst spezifisch?
In einer Behandlerkonferenz im Rahmen des 3.Qualitätszirkels des Clinicum Alpinums trafen sich online am 22.April 2021 drei Experten je unterschiedlicher «Behandlungspfade»: Dr. Martin Müller, Leitender Arzt Innere Medizin des Spitals Schiers, als „primary gate-keeper“ (Spital-Grundversorgung mit Notfallmedizin), Dr. Massimo Caliendo, Biologe und Arzt mit Neuroscience-Approach und Nutritionsspezialisierung aus Bergamo /Italien, sowie Frau Prof. Sigrun Chrubasik, Internistin und Phytotherapieforscherin, Bad Ragaz.
Sie alle stellten die Neuroinflammation in den Mittelpunkt des pathophysiologischen Geschehens und betonten das Grundproblem der immunologischen Antwort darauf. In der Folge kann und muss damit der Neuroimmunmodulation als Zielfeld unserer therapeutischen Bemühungen höchste Aufmerksamkeit gewidmet werden. Nun gilt das Feld der «Psychoneuroimmunolgie (PNI)» geradezu als «Königs-(sub)-Disziplin» der psychosomatischen Innovationen der letzten Jahre: hier hat uns Prof. Christian Schubert, Universitätsklinik Innsbruck, den Weg bereitet mit seinen jährlichen PNI-Kongressen in Innsbruck und seinen enorm arbeitsintensiven (Einzelfall-) -Studien.

Konkret: wie gelingt es uns, die vielen, mittlerweile bekannten Entzündungsparameter (Stichwort: «Zytokin-Sturm», Leukotriene, Interleukine 1-6, Omega-6-Fettsäuren als Präcursoren der Prostaglandine, erhöhte Cortisol-Werte, sowie Histamin-Interaktionen) zu modulieren und adäquat zu reduzieren? Aus der Intensiv- und Akutmedizin kennen wir bereits die Inflammationsbremsen der Corticosteroide, – Florinef, z.B. ist aktuell vergriffen, da sehr viele Long-Covid-Patienten dieses mit grossem Nutzen einsetzen. Auch Leukotrien-Blocker, wie Montelukast erfreuen sich grosser Beliebtheit.
Das Virus hat definitiv die «Weltordnung» durcheinander gewirbelt, es zeichnen sich neue «Paradigmata» am Zukunftshorizont ab: das Jahr 1 nach dem «lock-down» der Post-Modernen und ihrer Globalisierungsordnung.
Gibt es eine in sich plausible «Verschränkung» der Pathogenese, der zugrundeliegenden biopsychosozialen Wechselwirkungen und der möglichen Auflösung derselben?
Gibt es einen erkenntnistheoretischen Hintergrund dazu (Pathosophie)?

Dysbalance zwischen Logos, Ethos und Pathos

Jede Krankheit taucht zu einer gewissen Zeit, in einer gewissen Konstellation, meistens Mangelsituation im Hinblick auf bestimmte Lebensbedingungen auf. Overbeck (psychosomatischer Forscher der 80er und 90er Jahre) sprach hierbei sogar von «Krankheit als Anpassung». Unsere Erfahrungen über Pest-Pandemien und vielen anderen Infektionskrankheiten haben uns Mängel in der kollektiven Hygiene und im Umgang mit Tieren aufdecken lassen. Auch im Kontext von Corona gibt es Dysbalances zwischen Logos (geltende kognitive Einstellung, z.B. Ökonomisierung/Globalisierung), Ethos (Bereitschaft zu gesunden Grenzen und Verzichtspositionen, z.B. Erich Fromms Position von Haben oder Sein) und Pathos (der Krankheit, der Leidensfähigkeit und Lernbereitschaft durch Leiden). Diese enorm spannenden Fragen können erst in einer vertieften Betrachtung und Synopsis beantwortet werden, die an dieser Stelle zu weit führen würde.
Es sei hier nur vermerkt, dass nach jahrzehnterlanger Tabuisierung die Passivität, die Passio, die Leidensform, mittlerweile wieder als Grundannahme des Lebens (Existencial) in die Diskussion und Integration kommt (s. Kathrin Busch).

Könnte uns Corona hier hinein «schicken» etwa im Sinne eines committment?
Kommt uns mit Corona eine neue (alte) Passivität und «Ermöglichungsform» entgegen (Occurrence nach Michel de Montaigne)?

Ausblick und Anwendung für die Behandlung

Neben den augenscheinlichen enormen Vorteilen für die Digitalisierung, den Paketversandhandel, der Automatisierung, den social media, etc. gibt es (hoffentlich) auch begrüssenswerte Episteme, die im Sinne einer psychosozialen Gesundheit und Resilienz Bestand haben könnten.

Der Referent möchte nun einen Blick in die Zukunft wagen; folgende 10 Thesen könnten der Gegenwart auch «healing moments» bereiten.
10 Thesen der positiven Erneuerung nach Covid – 19 gemäss einem neuen sozio-psychosomatischen Zirkel:

· Entschleunigung (Hartmut Rosa)
· Rehabilitation der «vita passiva» (Kathrin Busch)
· Rückkehr und Vertiefung des Sozialen in der Medizin: Kontakt und Berühren («touch me – I am sick»)
· mehr Aufmerksamkeit für «healing moments» und «healing surroundings/architectures»
· Reduktion des Waren- und Tourismusverkehrs: Rehabilitation der persönlichen Bewegung
· Aufmerksamkeit für das Immunsystem / Immunisierung und Regeneration / Schlaf / Psychoneuroimmunology
· Abkehr des auf «Kante genäht» – nachhaltige Investition in Gesundheit
· Gesundheitspersonal als Werterhalt
· Solidarität mit dem europ. Süden
· «billiger kostet mehr» – Rückkehr / Neubelebung der Qualität (gr. Aretè)

Therapie von Covid Erkrankten

Damit ergeben sich auf Ebene der Behandlung (application) Konsequenzen für die Therapie von Covid-Patienten.
Wir können als Ärzte Haltungen und Fähigkeiten entwickeln, die uns einerseits «passive Tugenden» (ability to listen) einsetzen lassen, andererseits experimentell mit allen altbewährten Formen der Roborierung und Rekonvaleszenz arbeiten. D.h. in sensu strictu:

Zuhören, Ernst-nehmen der Leidensform, Ruhen, Regeneration begreifen, Invest in Immun, Anti-Inflammation, personalisierte Medizin, befähigen zum Erleiden, Entschleunigung als Therapeutikum, Entdramatisieren (=Durcharbeiten von Ängsten), sozialversicherungswirksame Akzeptanz des Long-Covid (wie von der WHO bereits anerkannt), Mobilität wieder auf persönliche Bewegung und Atmung (=saubere Luft) zurückbuchstabieren.
Mit den Worten von Dr. David Putrino (Mount Sinai Hospital), den O´Rourke in ihrem Artikel zitiert:
«A lot of physicians want the algorithm. There ist no algorithm. There ist listening to your patient, identifying symptoms, finding a way tu measure the severity of the symptoms, applying interventions to them, and then seeing if those symptoms resolve. That ist the way that medicine should be.»

Eine solche multimodale und komplexe Therapie-Disposition (interventions) unter der Vorzeichen von Entschleunigung, Achtsamkeit und «Recreation» kann unter den aktuellen sozioökonomischen Lebensbedingungen unserer Patienten (wir haben nicht mehr die grosszügige Zeitdimension eines Thomas Mann auf seinem Zauberberg zur Verfügung) am besten stationär in spezialisierten Post-COVID-Programmen umgesetzt werden. Wichtig dabei ist, dass sie multiperspektivisch und interdisziplinär ausgerichtet sind, eben «integrativ» mit den Worten des Infektiologen Philip Tarr.

Es bleibt dann in nächster Zukunft zu evaluieren, welche Therapie-Module effizient und und damit wirklich indiziert sind, die Sorgen unserer Langzeit-Covid-Patienten abzubauen und hoffnungsvolle Perspektiven von «healing moments» zu bieten.

RiView, 15.05.2021. Artikel als PDF

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