Olympiasiegerin war nicht auf der Liste

Tanja Frieden steht in vielen Köpfen für Leistungssport, Olympiasieg und Achillessehnenriss. Im Gespräch mit ihr werden zahlreiche spannende Facetten und Perspektiven deutlich, die weit über den Leistungssport hinausgehen und bis heute weniger bekannt sind. Tanja Frieden stammt aus einer Unternehmerfamilie und war selbst früh auch unternehmerisch erfolgreich.

Das Clinicum Alpinum verbindet mit Tanja Frieden nicht nur die gemeinsame Leidenschaft für die Natur und das Alpine, sondern auch das Verständnis für die Bewältigung von Lebenskrisen und den Willen, hier eine aktiv-unterstützende Rolle einzunehmen. In ihrer Coachingarbeit begleitet sie Menschen aus einer Krise, aus starren Mustern wieder in die Bewegung. «Ein aktiver Prozess, der eine körperliche und geistige Herausforderung darstellt», sagt sie.

Als Unternehmerin, Coach, Bewegungsmensch, Mutter, ehemalige Lehrerin und aktuell Präsidentin der Schweizer Schneesportinitiative, ist Tanja Frieden der Perspektivenwechsel in Fleisch und Blut übergegangen. Im Interview spricht sie über Höhen und Tiefen in ihrem Leben und welchen Unterschied sie zwischen ihren «Sport-Gspännli» und der Wirtschaft ausmacht. Sie erzählt im Interview auch, wer ihre wahren Vorbilder sind, wie sie mit ihrer Krankheit umgeht und warum Trolle auch faszinierend sein können. Ihr Leben ist aktuell sehr lebhaft. Umso erfreulicher für uns, dass es gelungen ist, Tanja Frieden für die Moderation des 1. Hochalpinen Symposium Gaflei zum Thema Perspektivenwechsel zu gewinnen.

«ALLES – wirklich ALLES – einem Ziel unterordnen»

Interview mit Tanja Frieden

Im Zusammenhang mit dem bevorstehenden «Hochalpinen Symposium Gaflei» am 31. August 2018 sprach Dr. Marc Risch mit Tanja Frieden.

Marc Risch: Frau Frieden – was war Ihr ursprünglicher beruflicher Mädchentraum?

Tanja Frieden: Eigentlich sehr unklassisch. Olympiasiegerin war nicht auf der Liste. Die Frage «Was willst Du sein, was willst Du werden» war für mich sehr schwierig, da ich enorm viele Interessen hatte. Diese in einen passenden Beruf zu fassen war schwierig. Ich wusste es als Kind nicht, wusste auch nicht was ein Beruf ist und was nicht. In die Freundschaftsbücher habe ich als Kind geschrieben: «Irgendwas in der Natur.»

Was war Ihre erste oder wichtigste Krise, was Ihr erster Erfolg, der Ihnen in bleibender Erinnerung ist?

Rückblickend war meine Epilepsie auch für den Karriereweg sehr prägend. Im Zusammenhang mit der Erkrankung, dem Erwachsen werden und dem Leistungssport war die Zeit um das 16. Lebensjahr nicht einfach, weil ich lernen musste, dass mir diese Krankheit Grenzen setzt und ich mit meinen Ressourcen – geistig und körperlich – haushalten muss. Beruflich gesehen waren die Phasen schwierig, wenn ich keine Sponsoren hatte
und die Angst da war nicht weitermachen zu können. Da gab es schon Momente wo ich das Gefühl hatte den Boden unter den Füssen zu verlieren. Der wichtigste Erfolg war der Vizeeuropameistertitel im Jahr 1999 unter norwegischer Flagge. Da habe ich verstanden: «Ja es ist möglich, erfolgreich und ganz oben zu sein!» Mitbegleitendes Schlüsselmomentum war: «Ja, davon möchte ich mehr!« Da war die Frage plötzlich kristallklar da: «Was muss ich dafür tun, mehr davon zu erleben?»

«Mein Ziel ist es, Menschen aus der Krise, aus starren Mustern wieder in Bewegung zu begleiten.»

Welche Werte bzw. was ist Ihnen im Leben heute wichtig?

Der dringende Wunsch, authentisch zu sein, zieht sich wie rotes Band durch mein Leben. Meine Linie nicht verlassen zu müssen und keine «lauwarmen« Kompromisse einzugehen. Mein Körper hilft mir dabei, wenn ich kurz vor einem zweifelhaften Entscheid stehe, reagiere ich mit körperlichem Unwohl im Magen – Bauchgefühl kenne ich also sehr gut und nutze das auch. Des Weiteren ist mir der Respekt gegenüber Menschen, der Natur und den Dingen im Allgemeinen sehr wichtig. Mein wichtigster Wert ist meine Lebensfreude – die Neugier am Entdecken!

Was hat Ihnen der Sport gegeben und was hat er Ihnen möglicherweise auch genommen? Bedauern Sie etwas?

Der Sport hat mir unglaublich viel gegeben. Ich durfte und musste in kurzer Zeit sehr viel Lernen, v.a. über mich. Das waren um es neudeutsch zu sagen: «Challenging Times!» Ich musste Lernen, dass Niederlagen zum Siegen gehören. Vor allem konnte ich durch den Sport und die damit verbundenen Reisen die Vielfalt der Kulturen kennenlernen – ein unschätzbarer Wert. Das hat viele Probleme, die wir in der Schweiz hatten und haben relativiert und mir Weitsicht ermöglicht. Der Sport hat mir geholfen den unbedingten Willen, immer wieder aufzustehen zu entwickeln, zu schärfen und zu erhalten. Absolute Leidenschaft ist hier eine Voraussetzung. Wichtige Lernerfahrung war: Alles – und ich meine wirklich ALLES – einem Ziel unterzuordnen. Was hat es mir genommen? Die Schönheit der Normalität und vielleicht auch ein geregeltes Sozialleben. Jünger Kinder zu haben, wäre ein Wunsch gewesen – das ist sicher ein Preis des Spitzensports.

Von was träumen Sie heute?

Die Klarheit und das Ziel vor Augen, so wie ich das im Spitzensport hatte. Ich träume davon, das nun leichte Leben auch besser spüren zu können. Als Spitzensportlerin ist man genau, ja fast pedantisch. Fünf gerade sein zu lassen ist für mich immer noch eine Herausforderung. Ich wünsche mir die Alltagsschönheiten noch schärfer wahrzunehmen, v.a. aber sie ganz einfach genießen zu können. Mein innerer Drillmaster ist sporadisch schon noch sehr aktiv.

Sie stammen aus dem Bernbiet und waren auf der ganzen Welt zu Hause, haben Sie einen Bezug zur Ostschweiz und zur Region?

Ich habe im Raum Bad Ragaz viele Ausbildungen gemacht. Gaflei kenne ich erst via google earth. Einmal bin ich mit einem Zweiplätzer über den Rätikon geflogen – eindrücklich! Die Täler mit viel verbindenden Elementen im 4-Ländereck. Die Region hat für mich Entdeckungs-Potential, ist aber halt nicht das Berner Oberland (lacht). Mein wichtigster Berg ist die «Blüemlisalp« im Schatten der Jungfrau. Ausser Polo Hofer hat die noch keiner wirklich beschrieben. Viele Berge haben mich geprägt, aber die «Blüemlisalp» ist von tieferer Bedeutung.

Was hat Sie in Ihrem Leben erschüttert und in der Retrospektive doch nachhaltig geprägt?

Den Tod mitzuerleben, den plötzlichen Verlust von Freunden durch Unfälle oder Krankheiten. Da habe ich mich oft gefragt: «Was ist der Preis, den ich für mein Tun bezahle? Wie gross ist dieses Risiko.« Eine wichtige und auch schmerzhafte Erkenntnis war, dass der Sport keine Einheit darstellt. Am Ende des Tages kämpft jeder für sich – eine Familie von «Verschiedenen». In der Retrospektive bin ich dankbar über das was war und ist. Das liegt daran, dass ich früh meine eigenen Verletzungen als Chance für neue Blickwinkel anerkennen musste. Mich erschüttert immer wieder, wie «unmutig» viele Menschen durchs Leben gehen und ihr Potential nicht nutzen und sich so Chancen verbauen.

Was war für Sie der wichtigste Erfolg und auch die wichtigste Lebenserfahrung ausserhalb des Sports oder anders gefragt: Welcher Perspektivenwechsel in Ihrem Leben war herausfordernd, erschütternd oder von speziellem Wert?

Im Umgang mit den «Sport-Gschpänli« war oft ein tragendes Gefühl, das ich als «Bedingungsloses Go, Go, Go!» umschreiben möchte, da – wir waren oft sehr im «Flow». Das erlebe ich in der Wirtschaft oft anders. Hier herrscht eine unangenehme «Fresssucht» vor. Das meint ein Gefühl, dass Du mir was vom Kuchen wegnimmst. Mein grösster Erfolg ist, dass ich durch mein Tun das Lebensgefühl für diesen Sport und auch mein Rebellentum mitprägen konnte. Ich hatte damals auch viele eigene Selbstvermarktungs- und Marketingideen, die funktioniert haben. Heute freue ich mich über Erfolge als Coach, wenn Führungskräfte, Menschen die sich auf die Arbeit mit mir eingelassen, ohne grosse Umwege einen persönlichen «Change» – einen Perspektivenwechsel machen können. Ich habe im Sport eines gelernt: Veränderungen muss man zügig angehen. Ich erinnere mich an meinen damaligen virtuellen Verwaltungsrat u.a. der damalige CEO von Globetrotter und CEO von Thömus Veloshop. Das waren meine Vertrauten und auch meine Kritiker – die haben mich oft «zusammengestaucht« und gerufen: «Frieden, das kannst Du nicht machen!» Das waren wichtige Auseinandersetzungen. Zu Diamanten wird man nur durch Reibung (lacht).

Welche Menschen haben Sie nachhaltig geprägt, waren und sind in Ihrem Leben von besonderem Wert?

Viele. Am nachhaltigsten im positiven Sinne: Meine Eltern! Bis heute. Mein Idol war nicht Britney Spears, sondern ich habe immer gesagt, meine Idole sind Vater und Mutter. Sie haben mir ein Gefühl der Liebe gegeben und mir war immer klar – sie Vertrauen mir und «wir sind da, wenn Du uns brauchst!» Sie gaben mir ein gutes Netz, das Freiheit und gleichzeitig Sicherheit gab. Ich durfte im Vergleich zu meinen Freunden abends am längsten weg sein, aber um «24 Uhr sharp» hatte ich daheim zu sein. Ich hatte Freiräume, die gut waren – deshalb musste ich dagegen nicht rebelliere. Aus der jüngeren Vergangenheit schätze ich Unternehmerfreundschaften, von denen ich sehr viel gelernt habe.

«Mein grösster Erfolg ist, dass ich durch mein Tun das Lebensgefühl für diesen Sport und auch mein Rebellentum mitprägen konnte.»

Orte, Räume und Wurzeln sind wichtig. Sie stammen in doppelter Hinsicht aus den Bergen. Ihre Mutter ist Norwegerin, Ihr Vater Schweizer. Welche Bedeutung haben diese beiden Länder für Sie? Gibt es einen Kraftort für Sie, den Sie verraten mögen?

Meine Mutter war extrem prägend, was den Zugang zur Natur anbelangt. Die Mythologie und Kraft Norwegens war und ist für mich sehr wichtig. Mich beeindruckt die Idee der Norweger, unerklärbare Phänomene in Geschichten z.B. mit Trollen zu verpacken. Die Natur gibt mir viel. Wenn ich aus der Natur nach Hause komme, bin ich immer aufgeladen. Ich habe auch das Privileg, mein Büro an einer Art Flussdelta in der Natur zu haben – ein schöner, spezieller Ort. Kraftort ist sicherlich Norwegen. Das Haus am See im Wald ist magisch – die Verbindung aus Natur, Bäumen, Mythologie – Wow! Da merkt man: «Es ist mehr da, als wir sehen!»

Welchen Stellenwert hat die Natur grundsätzlich für Sie und Ihre Familie?

Sie ist ein «Auftankort», gerade in Situationen, in denen ich nicht weiter weiss. Das Dach über dem Kopf schränkt mein Denken ein. Deshalb schlafe ich auch gerne unter den Sternen. Obwohl ich der digitalen Welt nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehe, ist Erfahrungslernen im dreidimensionalen Raum, also der natürlichen Realität enorm wichtig – nicht nur für Kinder. Gerade wenn es um sportliche und kreative Betätigungen geht, lernen Kinder in der Realität sehr viel mehr. Sie überwinden innere Widerstände und Ängste, Erleben Erfolg mit anderen, was die sozialen Kompetenzen bildet und festigt.

Welchen Bezug haben Sie zu «mental health» und zu Menschen, die psychisch erkrankt sind?

In meiner heutigen Tätigkeit und auch im Sport war und ist mentale Gesundheit sehr wichtig. Ich bin froh, dass ich eine sehr gute Wahrnehmungsfähigkeit habe. Im Coachingprozess ist die Auseinandersetzung mit der «Wahrnehmung« und Hilfen zur Strukturierung des Wahrgenommenen häufig zentral. Was ich oft merke ist, dass Wahrnehmungsfähigkeit auf körperlicher Ebene ein zentrales Element für mental heath ist. Dies muss oft geübt oder gar «nachgeschult« werden. Ich arbeite am liebsten im Einzelsetting mit Kunden und wende dabei Fachwissen aus dem Bereich der Logosynthese an. Mein Ziel ist es, Menschen aus der Krise, aus starren Mustern wieder in Bewegung zu begleiten. Bis zum Erreichen des gewünschten Zustandes oder des Zieles. Auf Berndütsch wird dabei auch von der «Säuliphase» gesprochen. Das meint, dass das aus der Krise kommen, auch ein «sich winden, strecken und somit sich neu orientieren» beinhaltet. Ein aktiver Prozess also, der eine körperliche und geistige Herausforderung darstellt.


Im Bild: Tanja Frieden, ehemalige Olympiasiegerin und Symposium-Referentin
Text: Michelle Posch, Fotos: ZVG

Interview als PDF
(liezeit)

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