«Wir erleben eine zweite Welle»

Der Psychiater Marc Risch verzeichnet deutlich mehr Anfragen für psychologische Hilfe. Ein Drittel davon betrifft Suchtmittel.

Herr Risch, wie wirkt sich das Coronavirus auf den Suchtmittelkonsum aus?

Marc Risch: Die Suchtproblematik ist in der Coronazeit bei Betroffenen, die psychisch bereits vulnerabel beziehungsweise sensibel gewesen sind, enorm angestiegen. Fachleute betreuen viele Erwachsene, die mit Einsamkeit konfrontiert, dadurch psychisch schwer belastet und deshalb in den Alkohol gerutscht sind. Bei jungen Erwachsenen erleben wir eine exzessive Zunahme des Cannabiskonsums. Der Konsum von MDMA (Ecstasy) und Benzodiazepinen wie Xanax macht sich bei unseren Patienten auch, aber nicht im gleichen Ausmass bemerkbar. Allgemein haben wir schon lange nicht mehr eine solche Menge kalter Entzüge erlebt.

Das Suchtmittelproblem zieht sich also durch alle Altersklassen. Woran leiden Ihre Patienten?

Marc Risch: Die Patienten leiden unter Panik, Angst und Depressionen. Das gründet in der diffusen Bedrohung des Viruses, das als unsichtbarer Feind wahrgenommen wird. Die Wirtschaftshilfe war dabei ein wesentliches Antidepressiva. Die Stabilität von Arbeitsplätzen ist enorm wichtig.

Inwiefern ist der Suchtmittelkonsum nun ein gesamtgesellschaftliches Problem?

Marc Risch: Es gibt wenig aktuelle Forschung in diesem Bereich. Zusätzlich ist das Thema sehr schambehaftet. Wir sehen aber seit zwei bis drei Wochen einen deutlichen Anstieg an Anfragen. Täglich sind es zwischen acht und zehn für die ambulante und vor allem auch stationäre Behandlung. Das ist das Dreifache von vor Covid-19. Jeder dritte Patient weist neben der Affektseite – Depression, Panik, Angst – auch ein Suchtmittelproblem auf. Wir bemerken, dass viele trotz der Scham recht schnell auf das Thema zu sprechen kommen. Zuvor mussten wir häufig nach- und hinterfragen: «Könnte es nicht sein, dass…?» Heute gestehen Patienten bereits beim Erstgespräch, dass sie ein Problem
mit Alkohol oder Cannabis haben. Für mich als Psychiater ist das ein Granmesser, dass der Konsum enorm zugenommen hat.

Wie konnte das Virus nach augenscheinlich lediglich zehn Wochen eine solche Wirkung auslösen?

Marc Risch: Ich führe gerne als Beispiel meine persönliche Erfahrung an. Vor zwei Wochen mussten wir eine Ansprache vor unserer Belegschaft halten – und mir standen die Tränen in den Augen. Denn am Anfang der Coronazeit mussten wir den Mitarbeitern erklären, dass wir sie maximal belasten und sie 12-Stunden-Schichten an zehn Tagen am Stück arbeiten müssen. Als ich die Ansprache hielt, merkte ich, wie belastend die Zeit tatsächlich war. Und das nicht nur wegen der Arbeit. Wir nehmen verschiedene Rollen ein – als Werktätige, Eltern und Kinder einer Risikogruppe, die wir nicht sehen durften. Gleichzeitig mussten wir funktionieren. Bei mir führte es zu einer Veränderung. Es machte
mich nicht kaputt, aber emotional und psychisch reagierte ich darauf. Viele Menschen teilen eine ähnliche Erfahrung.

Nun ist jedoch die erste Welle vorüber. Also kann man davon ausgehen, dass wieder Normalität herrscht?

Marc Risch: Das wäre ein Trugschluss. Ich spreche bewusst von einer «zweiten Welle», die jetzt bereits stattfindet, und meine dabei die schweren psychischen Folgen.

Können Sie das präzisieren?

Marc Risch: Mit einem Augenzwinkern sagt man, dass es nach der Coronazeit einen sprunghaften Anstieg der Geburtenrate geben wird. Und witzelt, dass der Getränkehandel profitierte, weil die Weinkeller wiederholt gefüllt wurden, nach dem Motto «gesoffen und gevögelt hat man». Doch das ist Blödsinn. Wir hatten Eltern, die in der Coronazeit ein Kind bekamen und die Väter durften nicht im Gebärsaal dabei sein. Demütig muss man sein und sagen: «Wir hatten enormes Glück.» Ich erinnere gerne an ein Grönemeyer-Lied, in dem er singt: «Alkohol ist dein Sanitäter in der Not.» Für viele in der Coronazeit war es tatsächlich so. Welche Verwerfungen hätte es gegeben, wenn die Situation
zwanzig und nicht zehn Wochen angedauert hätte?

Sie haben Erwachsene erwähnt, die an Alkoholsucht leiden. Gab es unter ihnen eine Gruppe, die besonders betroffen war?

Marc Risch: Wir sehen seit einigen Wochen Frauen im mittleren Alter, die neben der Depression auch Süchte entwickelt haben. Seien wir ehrlich: Sie hatten die schwerste Last zu tragen. Das Homeschooling wurde auf sie abgewälzt, als Teilzeitangestellte mussten sie zudem oftmals länger arbeiten und dazu beispielsweise einen Betreuungsauftrag für ihre Eltern wahrnehmen.

Sie haben die wirtschaftlichen Faktoren erwähnt und dass Jugendliche darunter leiden. Sind einem 18-Jährigen die genauen Umstände überhaupt bewusst?

Marc Risch: Man kann nur das wissen, was man bereits erfahren hat. Wie das berühmte Beispiel mit der Herdplatte. Ein Kind versteht erst, dass es diese nicht berühren soll, wenn es die Hand verbrannt hat. Jugendliche spüren einfach, dass etwas nicht stimmt. Generell ist jede Übergangsphase im Leben mit Erschütterungen verbunden. Bei Adoleszenten ist der Übergang zum Erwachsenenleben mit dem Abschluss der Lehre oder des Studiums zu nennen. Bei Erwachsenen beispielsweise die Elternschaft oder der Übergang in die Pension.

Wie kann man den Jugendlichen helfen?

Marc Risch: Wir sollten Rahmenbedingungen schaffen, in denen sich Jugendliche gemäss ihrem Potenzial entwickeln können. Wir haben das Phänomen der Upperclass, wo die wirtschaftlich Privilegierten überproportional psychisch erkranken, weil vieles einfach sinnlos scheint. Wir müssen ein ausgewogenes Mass an Repressionen definieren, um zu sehen, was funktioniert und was nicht. Gleichzeitig müssen wir Verständnis zeigen und auf ihre Bedürfnisse eingehen. Ich rede oft von sozialen Lern- und Bewegungsräumen. Ansonsten konsumieren sie oder weichen auf die Strassen aus, um Autorennen zu veranstalten.

Diese Forderung haben Sie schon bei der Debatte um den Medikamentenmissbrauch unter den Jugendlichen gestellt. Wie sieht Ihre Einschätzung hinsichtlich des jetzigen Konsums von Xanax, Ritalin oder Makatussin aus?

Marc Risch: Momentan kann ich wenig dazu sagen. Wir sehen aber Patienten aller Altersklassen, die verstärkt Benzodiazepine konsumieren. Und wir sehen natürlich auch, dass die Schwarzmarktpreise gestiegen sind. Ritalin liegt momentan bei 25 Franken pro Tablette, vor dem Virus lag er noch bei 12 Franken.

Wie sollen die gesellschaftlichen Akteure konkret handeln?

Marc Risch:Experten aus der Wirtschaft, Ausbildner, Fachleute der Medizin müssen über politische Grenzen hinweg zusammenkommen. Wir tragen alle Verantwortung – als Eltern, Pädagogen, als Ämter und Vertreter der Exekutive. Wir müssen aber vor allem einen Dialog auf Augenhöhe mit den Jugendlichen etablieren – heute, morgen und übermorgen. Wir müssen gemeinsam suchtpolitisch nicht nur Absichtserklärungen abgeben, sondern ganz konkret handeln. Das heisst auch, mit Betroffenen in einen Dialog zu kommen. Und das sind nicht nur Menschen, die in Schaan am Postplatz auffallen, weil sie gestrandet sind. Wir müssen auch die berücksichtigen, die noch nicht am Rande der Gesellschaft stehen, die aber das Potenzial für eine solche Entwicklung besitzen, weil sie Angst oder keine Orientierung haben.

Verfügt man über Kapazität, allen Leidenden zu helfen?

Marc Risch: Es ist kein Geheimnis, dass es Wartelisten gibt. In Schweizer Kliniken vor Corona dauerte es etwa sechs bis acht Wochen, in Österreich etwa 6 Monate, um psychiatrische Hilfe zu bekommen. Die Zahlen haben sie verdoppelt.

Interview: Damian Becker

Vaterland, 10.07.2020 Interview als PDF

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