Von der Depression zum Tiefsinn – Gesund bleiben in einer verrückten Zeit – Ein Beitrag für das bessere Verständnis von Affekterkrankungen

Einem nicht depressiven Menschen das Wesen einer Depression verständlich zu machen, stellt für Fachleute aus Medizin, Psychologie und Psychotherapie eine Herausforderung dar. Betroffene und ihre oft vergessenen Angehörigen treffen immer wieder auf stereotype Bilder von psychischem Kranksein: Depression als Charakterschwäche, die mit ausreichend großer Anstrengung überwindbar sein soll, ist nur ein Beispiel, das so nicht stehenbleiben darf. Diese und weitere holzschnittartige Überzeugungen in Bezug auf psychisches Kranksein sind nicht nur falsch, nein, sie sind vor allem stigmatisierend und für Betroffene häufig ein zusätzlicher Treiber, ihr Leid aus Scham im Dunkelfeld zu halten. Die folgenden Überlegungen sollen einen Beitrag für das bessere Verständnis des depressiven Krankseins leisten.

Depression meint Tiefsinn
Etymologisch bedeutet der aus dem Lateinischen stammende Depressionsbegriff «Niedergedrückt zu werden» oder «Zusammenbruch». Differentiellere Betrachtungen legen sprachwissenschaftlich auch das Synonym «Tiefsinn» nahe. Den Tiefsinn eines Menschen als Wert nicht nur zu erhalten, sondern auch therapeutisch in einen neuen Gesamtzusammenhang
zu bringen (Reframing), muss eines der Therapieziele einer modernen Depressionsbehandlung sein. Dass es dabei um mehr gehen muss als um eine rein pharmakologische Behandlung, ist in den
S3-Leitlinien zur Behandlung der unipolaren Depression umfassend dargelegt. Die moderne Behandlung der schweren Depression ist ein Dreiklang aus sprachbezogenen und nicht sprachbezogenen Therapieverfahren sowie einer klug gewählten, individualisierten Psychopharmakotherapie. Das Behandlungsziel: Seele und Körper in Einklang und Bewegung zu bringen, die eigenen Anteil an der Krankheitsentstehung und -unterhaltung abzuleiten und Handlungsalternativen durch therapeutische Unterstützung zu erlernen. Eine allgemein-internistische Ausschlussdiagnostik körpermedizinischer Gründe für die Depressionssymptomatik (u. a. ausführliches Erschöpfungslabor), ein therapeutisches «Drug-Monitoring» sowie eine enge Zusammenarbeit zwischen Hausärztinnen und -ärzten bzw. Allgemein- Internisten und Psychiatern gehören zum Standard, werden im Alltag jedoch leider oft vernachlässigt.

Das Häufigkeits-Scham-Paradoxon
Zu den Affekterkrankungen zählen die Diagnoseklassen ANGST, PANIK, DEPRESSION und ZWANG. Man könnte auch von den vier symptomatischen Affektgeschwistern sprechen, die zuweilen
gemeinsam in Erscheinung treten. Das Lebenszeitrisiko, einmal an einer behandlungsbedürftigen Affekterkrankung zu leiden, liegt zwischen 20 und 25 Prozent. Die Punktprävalenz, also dasjenige Maß, das uns anzeigt, wie viele Menschen eines zu definierenden Kollektivs gerade jetzt an einer Affekterkrankung laborieren, liegt bei zehn Prozent. Die aus großen Kohortenstudien ableitbaren
stabilen Risikofaktoren für Depressionen, die größte Diagnosegruppe der Affekterkrankungen, sind: Vereinsamung und Stadtleben – übergeordnet wird auch eine zunehmende Sinn-Entkoppelung diskutiert. Die beschriebenen Häufigkeiten und die WHO-Prognosen, wonach Depressionen im Jahr 2030 in den Industrienationen das am häufigsten vorkommende Krankheitsphänomen sein werden, kontrastieren mit einem eklatanten, unterrepräsentierten öffentlichen Dialog über dieses Erkrankungsbild. Dies lässt sich nur durch ausgeprägte Scham und Angst vor Stigmatisierung erklären. Da lohnt ein Blick in das Kunstschaffen. Ebendort darf sich der Wert des Tiefsinns zeigen.

Kunst und Therapie zugleich – prominente Beispiele
Ästhetische Therapieverfahren (Kunsttherapie, Klangtherapie, transmediale Therapieverfahren) sind in der Depressionsbehandlung – neben Bewegungstherapie, körperbezogenen, naturnahen
Therapieerfahrungen und einer intensiven sprachbezogenen Psychotherapie – hocheffektiv und tragen zu einer nachhaltigen Genesung bei. Kunst kann jedoch mehr. Kunst wirkt, spricht an, irritiert, wenn uns der Künstler an seiner Tiefsinnlichkeit teilhaben lässt. Nachfolgend ein paar Beispiele dazu:
• Kennen Sie das zweite Klavierkonzert von Rachmaninov, der – so ist es in seiner Biographie (Pathographie) nachzulesen – selbst schwer an Depressionen erkrankt war und ebendieses beeindruckende Werk seinem damaligen Hypnosetherapeuten («a Monsieur Dahl») widmete?
• Kennen Sie von Nietzsche, der schwer nervenkrank war, die passende sinngemäße Beschreibung, der zufolge Gesundheit dasjenige Maß an Krankheit darstellt, welches ihm gerade noch erlaubt, seinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen?
• Haben Sie gewusst, dass sich im Schaffen von Wilhelm Busch – der mit dem Ausspruch «Es ist ein Brauch von Alters her, wer Sorgen hat, hat auch Likör» eine der häufigsten Komorbiditäten von Depressionen andeutet – viel Tiefsinniges versteckt, da er selbst an Depressionen gelitten haben soll?
• Kennen Sie die vier Bilder mit dem Titel «Der Schrei» von Munch oder «Sorrowing old Man» von Vincent van Gogh?
Die genannten Werke sind ein kleiner Auszug aus dem beeindruckend großen Schatz des depressiven Tiefsinns von Künstlerinnen und Künstlern, die uns zeigen, dass Krankheit und Krankheitsüberwindung auch etwas sehr Schöpferisches beinhalten können. Bio-Psycho-Soziales Modell & AMDP-System Experten aller medizinischen Fachgebiete sollten sich auf die Wertigkeit
der anamnesegeleiteten Diagnostik mit Längs- und Querschnittsbefundung zurückbesinnen und sich eines einfachen, aber zentralen Konzepts bedienen: des Bio-Psycho-Sozialen Modells. Dabei
wird die soziale Dimension von Krankheit/ Gesundheit in der Anamnese und Aktualbefunderhebung häufig vernachlässigt. Die Exploration der Familienanamnese mit Fokus auf psychische Erkrankungen oder eine gendersensible Sexualanamnese, die über die Frage nach Ejakulationsproblemen unter SSRI hinausgeht, und konsequentes, standardisiertes Abfragen, Prüfen und Bewerten objektiv erkennbarer und aktiv zu objektivierender Symptome sind wichtig. Das von der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie geprägte AMDP-System stellt ein sehr gutes Hilfsmittel zur standardisierten Erfassung und Dokumentation eines psychopathologischen Befundes dar und eignet sich zur Alltags- Anwendung in der Befunderhebung. Im AMDP-System werden sogenannte Selbst- und Fremd-Items beschrieben. Diese Einteilung hilft uns Ärztinnen und Ärzten dabei, zu erkennen, dass es neben objektiv erkennbaren Symptomen, beispielsweise einer Bewusstseinseintrübung (ITEM 2), auch Phänomene gibt, die auf den ersten Blick nicht erkannt und nur durch eine aktive Exploration abgebildet werden können. Hierzu gehören etwa die oft für Patienten sehr schambehafteten Zwangsphänomene. Wer nicht aktiv nach Zwangsgedanken (ITEM 30), Zwangsimpulsen (ITEM 31) oder Zwangshandlungen (ITEM 32) fragt, wird diesen – gerade in Coronazeiten – häufig zu sehenden Leidensbereich verpassen.

Hilflose Helfer und SARS-CoV-2
Es ist kein Geheimnis, dass ich in meinem beruflichen Alltag mehr Kolleginnen und Kollegen aus Gesundheitsberufen durch Suizid nach «verschleppten Depressionen» verloren habe als Patientinnen und Patienten. Wir wissen heute noch nicht genau, welchen Impact die gegenwärtige Pandemie auf Health Professionals haben wird. Was wir jedoch bereits jetzt sehen, ist, dass Angst, Panik, Zwangsphänomene und auch Suchtentwicklungen in der Gesamtbevölkerung zugenommen haben. Wir müssen davon ausgehen, dass eine deutliche Zunahme der Erschöpfungsdepressionen erst dann zu sehen sein wird, wenn wir den ZEROCOVID- Status erreicht haben. Deshalb: In der Sorge und im Bemühen um andere ist auch die eigene Balance wichtig – take CARE!

 

Autor:
Dr. Marc Risch FA f. Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Praktischer Arzt, Chefarzt Clinicum Alpinum

Artikel erschienen in Hausarzt, Dezember 2021
Hier finden Sie das pdf

 

 

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