Mit «Die Welt im Rücken» ist dem TAK eine fulminante Theaterinszenierung gelungen, in der eine bipolar erkrankte Figur im Zentrum steht. Ein Theaterabend, der anhand eines realen Einzelschicksals die verrückt machende Überforderung und Überreizung thematisiert.
Das TAK Theater Liechtenstein hat als zweite Eigenproduktion in dieser Saison den Roman «Die Welt im Rücken» von Thomas Melle für die Theaterbühne umgesetzt. In dem Roman beschreibt der Autor sein Leben mit einer bipolaren Störung, auch als manisch-depressives Kranksein bezeichnet. Auf manische Phasen, in denen er sich in einem absoluten Energierausch befindet und sich für den wichtigsten Menschen des Universums hält, folgen tiefe Depressionen, in denen ihm jegliches Selbstwertgefühl fehlt. Der von der Presse hoch gelobte Roman ist nicht nur ein aussergewöhnlicher Einblick in das, was in einem Menschen vorgeht, sondern auch eine fesselnde Chronik eines zerrissenen Lebens. Der Regisseur Oliver Vorwerk hat den Text für die Bühne bearbeitet und am TAK inszeniert. Im Rahmen der Inszenierung traf er sich mit dem Psychiater Dr. med. Marc Risch zum Gespräch.
Oliver Vorwerk, der Roman von Thomas Melle hat über 350 Seiten und schildert das Leben von Thomas Melle über mehrere Jahre hinweg in einer sehr bildhaften Sprache. Wie reduziert man so einen Text auf 90 Minuten Theater? Oliver Vorwerk: Die Fassung zu erstellen war eine lange Arbeit. Dabei hat mich weniger die medizinische Diagnose interessiert, sondern die Wirkung, die die Krankheit auf das Leben der Figur hat. Mich interessiert immer der Mensch und was aus ihm wird. Ich achte also beim Lesen und Bearbeiten darauf, was mich persönlich anspringt. Zum Beispiel ist er ja ein sehr intelligenter Mensch, der begabt ist und auch vor diesem Roman tolle Sachen geschrieben hat. Wenn er in seiner manischen Phase durch Berlin läuft und wildfremde Menschen anspricht in der Meinung, alle müssten ihn kennen, dann bedauere ich als Leser das. Ich entwickle Empathie dafür, wie sich die Einsamkeit inmitten von Menschen anfühlt. Diese persönliche Empfindung ist der Punkt, der theatral umsetzbar ist und der zudem über den einzelnen Fall hinaus gut nachfühlbar ist.
Marc Risch, ist bei dieser für die Theaterarbeit notwendigen Subjektivierung das Krankheitsbild der bipolaren Störung für Sie aus fachlicher Sicht denn noch erkennbar? Wie nah an der Realität ist das, was wir auf der Bühne sehen?
Marc Risch: Ich habe das Stück nun zweimal gesehen und ich bin tief beeindruckt, was der Schauspieler, der Regisseur und das TAK-Team auf die Bühne zaubern. Nein, es ist kein Zauber, es ist die pure Realität, die wir hier sehen. Ich möchte nicht den Ausdruck verwenden, dass es eine «perfekte Darstellung» der eingangs benannten Krankheit ist. Psychisches Kranksein ist immer sehr nuanciert, das kann man nicht in Schubladen packen. Aber was hier auf der Bühne dargestellt wird, ist definitiv Teil auch meiner Realität, wie ich sie seit 17 Jahre Psychiatrie erfahre. Die Dramatik und der Verlauf der Erkrankung, diese schnellen Wechsel zwischen Hochphasen, wahnhafter Wahrnehmung und Depression – das ist sehr genau getroffen.
Oliver Vorwerk: In diesem Roman gibt es ja tatsächlich auch viele unglaublich gute medizinische Erklärungen. Für einen Theaterabend sind die aber kaum geeignet, da gibt es bessere Formen dafür, diese genauer zu erklären. Diese Figur ist zwar nicht durchgehend sympathisch, aber ihr Schicksal ist tragisch, und das möchte ich erzählen. Alle Figuren, die wir im Theater auf der Bühne sehen, sind ja nie ganz «normal». Sie sind fast immer Grenzgänger, sonst würde man ihnen kaum den Raum bieten, damit man ihnen ein bis zwei Stunden zuschaut.
Marc Risch: Das finde ich in dieser Inszenierung auch so beeindruckend, dass man der Hauptfigur emotional und durch die Gestaltung des Bühnenbilds auch physisch sehr nah ist – das dünkt mich ein enorm wichtiger Aspekt. Man spürt die Beklemmung, seine Angst und, was ich vor allem beeindruckend finde, diese schnellen und so erschöpfenden Wechsel zwischen Manie und Depression. Das -Erschöpfende psychischen Krankseins und die still-schreiende Einsamkeit ist ein zentrales Momentum bei Affekterkrankungen. Dieser Aspekt wird in diesem Stück erschütterndtreffend dargestellt. Was ich besonders wichtig finde, ist, dass auch die Scham des Erkrankten thematisiert wird. Das ist sehr wichtig für das Verständnis der Situation, in der Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig stecken. Denn die Scham ist oft der negative Vektor, an dem Patient/- innen zerbrechen, wenn sie zum Beispiel erkennen, was sie in der manischen Phase getan haben. Auch verhindert die Scham oft einen zeitnahen Zugang zum Helfersystem.
Der Autor hat in seinem Buch beschrieben, dass er an einer besonders schweren Form dieser Krankheit erkrankt ist und entsprechend gibt es auch leichtere Verläufe. Wie lässt sich denn überhaupt unterscheiden, was «krank» ist und was ein Auf und Ab im Leben ist, das als «normal» zu bezeichnen ist?
Marc Risch: Die Grenze zwischen krank, noch nicht krank und normal definiert sich über die sogenannten ATLs, die Alltäglichen Lebensverrichtungen. Krankheitswertig ist eine Situation dann, wenn der individuelle Alltag nachhaltig beeinträchtigt ist. Im Theaterstück ist das zum Beispiel gegeben, wenn der Erzähler den Weg nach Hause nicht mehr selbst findet oder morgens nicht mehr aufstehen kann oder wichtige Beziehungen gefährdet, etc. Wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, der Gestalter seines eigenen Alltags zu sein, dann beginnt die Krankheit, sie nimmt Überhand und treibt Betroffene in die Not. Krankheit muss immer bio-psychosozial gedacht werden, das heisst, die soziale Beziehung zum direkten persönlichen Umfeld ist mitentscheidend.
Ein Beispiel: Ein bipolarer Buchhalter leidet unter Umständen stärker als ein bipolarer Künstler, da sie in ihrer täglichen Arbeit und in ihrem Umfeld unterschiedlich stark beeinträchtigt sind. Ihr Umfeld kann die Krankheit unterschiedlich gut tolerieren. Hierbei geht es um die Frage der «Systemresilienz». «Kranksein» ist also abhängig vom tragenden Umfeld. Im Theaterstück spielen zum Beispiel die Freunde des Erzählers und seine Mutter eine sehr wichtige Rolle: Sie leiden unter seiner Erkrankung und sind Mitbetroffene. Eine integrierte und integrierende Therapie muss immer darauf abzielen, der Vereinsamung der psychisch Erkrankten entgegenzuwirken.
Oliver Vorwerk: Die Beziehung zu den Freunden wird sehr eindrücklich geschildert im Text und spielt auch in unserer Inszenierung eine grosse Rolle. Erst sind sie eine gute Basis, versuchen zu helfen, bringen ihn in die Psychiatrie und stützen ihn. Doch in der manischen Phase nimmt er sie als verändert wahr, stösst sie vor den Kopf bis sie sich abwenden – abwenden müssen, weil sie erkennen, dass sie ihn nicht mehr erreichen. Und dann «erwacht» er aus der Manie und muss erkennen, wie er sein Leben ruiniert hat. Einsamkeit ist in der Tat eines der grossen Themen der Hauptfigur in allen Phasen. In der manischen Phase sieht er sich als den Grössten überhaupt an, unangreifbar, Messias gleich und alles um ihn herum bis hin zur roten Ampel bezieht er auf sich selbst. In der Depression fühlt er sich vollkommen vergessen.
Marc Risch: Das ist übrigens sehr positiv zu sehen, dass die Freunde die Hauptfigur in der manischen Phase in die Psychiatrie bringen. Denn in der Realität ist es ja meist so, dass depressive Patienten ihren Leidensdruck selbst spüren und daher zum Glück oft den Weg finden über den Hausarzt zu den notwendigen Hilfen. Die manischen Patienten jedoch, die sehen wir oft viel zu spät. Sie empfinden so ein Hochgefühl, dass sie nicht von selbst auf den Gedanken kommen, sich frühzeitig Hilfe zu suchen. Von bipolaren Erkrankungen betroffene Menschen sind auch sehr geschickt darin, angebotene Hilfen in manischen Phasen abzulehnen und den manischen Zustand lange Zeit als «normal», «positiv» und «lebendig» zu beschreiben und ein Bild aufrechtzuerhalten «noch alles im Griff» zu haben. In schweren manischen Schüben haben sich dann manche schon um Haus und Hof gebracht, Geld verschenkt und Schulden aufgehäuft. Nicht selten werden Menschen in der Manie von anderen ausgenutzt, sodass sie von sozialen Diensten und Vormundschaftsbehörden oder Gerichten geschützt werden müssen, was wie bereits erwähnt für Betroffene eine zusätzliche Beschämung darstellt.
Gibt es denn in so einem Fall, wie er in «Die Welt im Rücken» geschildert wird, Möglichkeiten der Heilung oder Linderung?
Marc Risch: Es gibt zum einen Möglichkeiten, den Patienten mit einer klug gewählten Medikation so zu helfen, dass die jeweiligen Phasen nicht zu stark ausgeprägt auftreten. Voraussetzung ist eine langjährige, vertrauensvolle therapeutische Beziehung. Sogenannte «mood stabilizer », also Stimmungsstabilisatoren können dazu beitragen, dass die affektive «Auslenkung» nicht so extrem ist. Die wichtigste Voraussetzung aber ist eine stabile therapeutische Beziehung, das heisst die Arbeit von ambulanten Versorgen, von Hausärzt/-innen und psychologischen Diensten, v. a. aber von sogenannten niederschwelligen Vor-Ort- Hilfen wie beispielsweise Sozialarbeitern und Fachkolleg/-innen aus der psychiatrischen Spitex, die dann zeitnah, d. h. sofort verfügbar sein müssen, wenn der Patient um Hilfe «ruft». Wenn im Theaterstück die Hauptfigur am Ende im Schneegestöber einem ungewissen Ende entgegenläuft, dann wünsche ich ihm, dass er den Weg zu seinem Hausarzt, zu seiner Hausärztin findet, der/die ihn vielleicht auch schon vor 10 Jahren in die Psychiatrie gefahren hat. Der Widerstand in Behandlung zu gehen ist dann gering, wenn das Netz aus allen Versorgern – Psychiatrie, Pflegende, aufsuchende Dienste – vielfältig ist, vertrauensvoll zusammenarbeitet und flexibel und praktisch jederzeit verfügbar ist.
Oliver Vorwerk: In diesem Zusammenhang ist es uns bei dieser Theaterarbeit auch darum gegangen, psychische Krankheit nicht zu stigmatisieren. Und umgekehrt als Betroffener sich nicht zu verstecken. Wer von uns bereits einmal eine Therapie gemacht hat, war sicher nicht so in Not wie die Hauptfigur im Text, hat aber hoffentlich erfahren, dass eine Therapie eine tolle, wertvolle Sache sein kann. Unser Leben ist so kompliziert, der Leistungsdruck so hoch, die Anforderungen an jeden von uns so vielfältig, dass ich sehr gut verstehen kann, wenn jemand plötzlich «neben sich steht». Ich finde, das geht schnell und ich möchte sehr dafür plädieren, dass man sich Hilfe suchen kann. Vielleicht kann das Stück auch dazu beitragen, dass wir etwas offener über psychische Probleme sprechen und es normaler wird, über eigene Probleme zu sprechen.
Dieser Artikel erschien im Volksblatt am 01. März 2023.