Das Märchen vom bedingungslosen Mutterglück

Depression in Schwangerschaft und Stillzeit– eine ganzheitliche Betrachtung

Endlich schwanger! 

„Wo Licht ist, ist auch Schatten“, sagt der Volksmund. Das gilt in besonderem Masse auch für das Mutter- bzw. Elternglück. Die Mutterschaft ist – um es etwas technisch zu formulieren – mit größten Umstellungs- und Adaptionsprozessen des weiblichen Organismus verbunden. Aber nicht nur das. Die Anpassungsleistung betrifft neben der seelisch-körperlichen Ebene weitere Ebenen. Insbesondere Veränderungen auf der Beziehungsebene zum Partner, zur Familie, zum Freundeskreis aber auch innerhalb der Arbeitsbeziehungen sind gleichermaßen normal wie neu. Es kommt zu einer Rollen- und Werteveränderung, verbunden mit einer neuen – bislang nicht gekannten – Form der bedingungslosen Verantwortungsübernahme.
Aus einer ganzheitlichen Perspektive betrachtet, haben sich traditionelle Rollen- und Familienmodelle in den letzten Dekaden verändert. Der Zeitpunkt der ersten Schwangerschaft, wenn sich diese denn ohne fachliche Hilfe, also natürlich einzustellen vermag, hat sich in Richtung des 30. Lebensjahres verschoben. Grossfamiliäre, tragende Hilfsstrukturen und soziale Lernräume, wurden durch eher kleinfamiliäre Strukturen mit hoher, meist berufsbedingter Mobilitätsbereitschaft ersetzt.

Die Elternrolle ist eine individuelle Anpassungshöchstleistung 

Dass Mütter und Väter durch Schwangerschaft und Niederkunft mindestens zwei neue Rollen hinzugewinnen, ist keine Neuigkeit. Die Rollenbesetzung als Mutter und Vater und die Erweiterung der Paar- um die Elternebene ist jedoch eine individuelle Anpassungshöchstleistung und steht zuweilen im Widerspruch mit einer nach wie vor sehr oberflächlichen Zuschreibung, dass die Elternschaft als das größte Geschenk im Leben erlebt werden und ausschließlich eine positive Bedeutung haben sollte. In der erweiterten Familie und im Freundeskreis der Eltern werden das Thema Schwangerschaft und das bevorstehende Ereignis der Geburt in der Regel als äußerst positiv, sinnstiftend,  nach „Romantisierungsgrad“ als einfach „grossartig“ erachtet. Und zwar deshalb, weil es so zu sein hat und das immer schon so war.

Eine generationenübergreifende Herausforderung?

Großeltern, Paten, Onkel und -Tanten freuen sich oft mehr als die Eltern selbst und zeigen dies in einem hellbläulichen und rosarötlichen Aktionismus dem Neugeborenen und seinen mutmaßlichen Bedürfnissen gegenüber. Für die künftigen Eltern werden bislang theoretische Gedankenspiele zum „Wieweiter“ mit der Karriere, zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zu Bekenntnissen von Arbeitgebern hinsichtlich der Time-Sharing-Modelle und Wartezeiten für Kinderbetreuungsplätze mit einem positiven Schwangerschaftstest in die Realität gerückt.

Aus medizinischer Sicht ist festzuhalten:

• Viele Schwangerschaften entstehen gänzlich ungeplant oder Paare benötigen fachmedizinische Assistenz, um eine erfolgreiche Befruchtung zu erzielen.
• Die Schwangerschaftszeit an sich ist oft auch mit wirtschaftlicher Unsicherheit, der Frage nach dem künftigen Lebensmittelpunkt und somit mehr oder weniger ausgeprägten Zukunftsängsten verbunden.
• Bei der Geburt und in der Zeit im Wochenbett sind Gebärende und/oder Neugeborene anfällig für Komplikationen.
• Elternteile leben ihre neuen Rollen unter dem Einfluss ihrer Lebenserfahrungen und ihrer Sozialisation, etwa der Erfahrung mit den eigenen Eltern. Ein eigenes gemeinsames Verständnis von Elternsein muss von beiden Seiten erst „entwickelt“ und dann auch „eingeübt“ sowie situativ angepasst werden.

 

Gestresste Gesellschaft = Gestresste Eltern und Kinder

Neue Erkenntnisse aus Epigenetik und Stressforschung legen nahe, dass der Stress der Eltern vor und in der Schwangerschaft sich nicht nur auf die Geburt an sich, sondern auch auf die Stresskompetenz der/des Babys und ihre/seine Entwicklung auswirken kann.

 

Mutterschaft und mentale Gesundheit

Mit Blick auf die Entwicklungen der affektiven Störungen (ein Teilbereich der psychischen Erkrankungen) muss davon ausgegangen werden, dass auch die Gesamtheit der Mütter oder der Eltern in gleich hohem Mass von depressiven Erkrankungen, Ängsten, Zwangs- und auch Panikerkrankungen betroffen ist. Aus Forschungen zu affektiven Störungen wissen wir, dass Betroffene häufig aus Scham auch einfache Hilfen nicht anzunehmen vermögen und es so zu Verschleppungs- und Chronizitätseffekten sowie Bindungsproblemen zwischen Mutter und Kind, Vater und Kind, sowie zu Konflikten zwischen den Eltern kommen kann. Wenn Eltern bzw. Mütter im Rahmen einer affektiven Erkrankung, welche durch die Geburtsumstände hervorgerufen wurde, nicht ausreichend Freude oder Glück empfinden oder sich nicht ausreichend auf die neue Herausforderung einstellen können, dann empfinden sie oft Scham. Um dem entgegenzuwirken, bedarf es der umsichtigen Beratung und Begleitung durch Hausärztinnen und -ärzte, Geburtshelfer/-innen, einfach zugängliche Beratungsstellen sowie eines ausgleichenden, flexiblen und tragfähigen familiären Systems. Letzteres fehlt häufig oder weist Lücken auf, weshalb den drei „ausserhäuslichen Hilfen“ eine besonders große Bedeutung zukommt.

Die schwere peripartale Depression

Von diagnostischer Seite her ist es zentral, eine leichte, kurzdauerende emotional belastende Phase im Rahmen der Anpassungsvorgänge der Entbindung – welche häufig als „Babyblues“ bezeichnet wird und mit erhöhter emotionaler Auslenkbarkeit verbunden ist – von schwerwiegenden hochsymptomatischen depressiven Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit (inkl. des Wochenbettes als hochvulnerabler Phase) zu unterscheiden. Ebenso wichtig ist die Diagnose der peripartalen Psychose, einer wahnhaften Erkrankung, die seltener vorkommt als die peripartale Depression. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der psychiatrischen Krankheits- und Familienanamnese hilft dabei, besondere Risiken einer Erkrankung nach der Geburt frühzeitig zu erkennen und Betroffenen noch während der Schwangerschaft eine Fachberatung zu ermöglichen. Wenn wir davon ausgehen, dass im Laufe des Lebens jede 4.Person an einer Depression erkrankt, ist davon auszugehen, dass ein hoher Prozentsatz von werdenden Eltern bereits vor der ersten Schwangerschaft oder im Zuge von weiteren Schwangerschaften eine psychische Beeinträchtigung aufweist oder aufgewiesen hat. Hier kommt einer medizinisch-psychologischen Grundversorgung, bspw. im Kontext von Vorsorgeuntersuchungen, größte Bedeutung zu.

Im Zusammenhang mit Diagnostik und Hilfen bei affektiven Erkrankungen in Schwangerschaft und Stillzeit ist es von höchster Wichtigkeit, nicht offensichtlich vorhandene Symptome bei Patientinnen und Patienten aktiv zu erfragen wie zum Beispiel Angst- und Zwangsphänomene, Überforderungserleben, Freudlosigkeit, Schmerzen. Ergänzend braucht es einen belastbaren, lösungsorientierten und abgestimmten Dialog mit involvierten Hebammen und Pflegefachkräften, Gynäkologinnen/Gynäkologen und Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern.
Die aufsuchenden Dienste haben hier einen sehr wichtigen Stellenwert. Die Therapie einer schweren peripartalen Depression schliesst das gesamte Umfeld mit ein – sie soll den ebenso betroffenen Vater und das erweiterte familiäre Umfeld der erkrankten Mutter einbeziehen und das oft vorhandene Vakuum aus Hilflosigkeit, Überforderung und Scham lösen.

Fazit

Die Umstellungsprozesse des weiblichen Organismus und die Anpassungen sind – um es positiv zu formulieren – eine beeindruckende Leistung. Die Aufgabe des Umfeldes ist es, diese Thematik aktiv zu antizipieren und aus dem Dunkelfeld zu holen. Aus zweierlei Gründen: erstens weil die peripartale Depression, wenn sie früh genug diagnostiziert wird und Risikokonstellationen erkannt werden, sehr gut behandelt werden kann. Und zweitens weil ein stabiles familiäres Umfeld für das Neugeborene einen besseren Start in ein sicher gebundenes Leben bedeutet.

Dieser Artikel erschien in der Februar Ausgabe 2023 im Magazin Hausärzt:in der Regional Median Austria und wurde textlich für die online Veröffentlichung angepasst. Seit mehr als 30 Jahren ist die Hausärzt;in das monatliche Praxismagazin für niedergelassene Allgemeinmediziner, Fachärzte sowie Apotheker. 

 

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