Soziale Phobie – Wenn die Angst krank macht

Mehr als zehn Prozent leiden einmal im Leben an einer besonderen Form von Angststörung, die sich durch Furcht vor prüfender Beachtung durch andere Menschen äussert. Diese soziale Phobie führt im schlimmsten Fall zur ­Vermeidung sozialer Situationen bis hin zur Vereinsamung.

Ein Mann mittleren Alters schiebt den Einkaufswagen zwischen den frischen Gemüseregalen und den bunten Obstkörben hindurch. Eine gewöhnliche Alltagssituation, die keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eigentlich. Niemandem fällt auf, dass die Hände den Griff des Wagens fest umklammern. Konzentriert bleibt der Mann bei den Äpfeln stehen. So viele Sorten, welche soll er nur nehmen? Er fühlt sich beobachtet und unwohl. Schweissperlen bilden sich auf seiner Stirn, sein Herz beginnt zu rasen.

Der Mann leidet an einer sozialen Phobie, eine ernst zu nehmende, zuweilen schwere Beeinträchtigung des sozialen (Er-) Lebens. Wie der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Marc Risch erklärt, versteht man unter Phobien «gerichtete Ängste». «Die Angst hat im Unterschied zur frei-flottierenden Panik, die einfach über einen kommt, einen ‹Inhalt› beziehungsweise ein ‹Focus-Thema›. Das heisst: Die Angst bezieht sich auf etwas meist Situatives, im Sinne einer Angst vor etwas.»

Angst vor Ablehnung, Ausgrenzung und Abwertung

Im Falle der sozialen Phobie ist die Besonderheit diejenige, dass sich die Angst auf die soziale Teilhabe bezieht. «Die vermeintliche Widersprüchlichkeit dieser Erkrankung liegt dann eben darin, dass wir als soziale Wesen soziale Teilhabe benötigen – so wie die Luft zum Atmen. Die soziale Phobie löst aber dermassen grosse Ängste aus, dass soziale Situationen vermieden werden», so Risch. «In dieser Dynamik entwickeln Betroffene neben Vereinsamung nicht selten weitere schwerwiegende psychische Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen.» Wichtig sei, dass Menschen, die an sozialen Phobien leiden, sich in sozialen Situationen nicht nur ein bisschen unwohl fühlen, sondern dass ein Gefühl entstehe, sich peinlich oder beschämend in einer Art Zentrum der Aufmerksamkeit anderer zu befinden. «Betroffene denken, die Erwartungen anderer nicht erfüllen zu können, wodurch Ablehnung, Ausgrenzung und ­Abwertung entstehen können oder die Folge sind – das kann maximal quälend erlebt werden, was ein Vermeidungsverhalten nach sich zieht», erklärt der Psychiater.

Der Mann ist nicht oft im Supermarkt. Wenn es möglich ist, bestellt er online. Doch heute liess es sich nicht ­vermeiden. Endlich konnte er sich für eine Apfelsorte entscheiden. Er rollt den Wagen weiter zu den Kartoffeln, seine Hände schwitzen.
Neben Herzrasen und schwitzigen Händen sind Beklemmungsgefühle oder Harndrang nur einige der typischen Symptome einer Phobie. Mit dieser Erkrankung verbunden ist ein sehr ausgeprägtes «vegetatives hyperarousal» (Zustand eines anhaltenden erhöhten Aktivierungsniveaus des autonomen Nervensystems), das sich auf körperlicher Ebene äussern kann. Vor diesen Symptomen ängstigen sich Betroffene, weil sie die Scham- und Beklemmungsspirale zusätzlich antreiben.

Zurückhaltung oder Schüchternheit ist keine Krankheit

Der Mann im Supermarkt ist kein Einzelfall. Aktuell liegt die Lebenszeitprävalenz, das heisst das Risiko, einmal im Leben an dieser Form einer Angst­störung zu leiden und fachliche Unterstützung zu benötigen, in der Grössenordnung von zehn Prozent. Risch vermutet, dass die Anzahl nicht oder inadäquat behandelter Menschen hoch sein dürfte. Es sei aber wichtig, die Diagnose mit Vorsicht zu stellen. «Soziale Zurückhaltung oder Schüchternheit in der Adoleszenz rechtfertigen die Diagnose nicht», so Risch. Laut internationaler Klassifikation (International classification of diseases kurz: ICD) definiert sich die soziale Phobie als eine Erkrankung mit Furcht vor prüfender Beachtung durch andere Menschen, welche schliesslich zur Vermeidung ­sozialer Situationen führt. «Bei ausgeprägteren sozialen Phobien bestehen häufig ein niedriges Selbstwertgefühl und Furcht vor Kritik», weiss der Facharzt. «Wichtig ist, dass sich die betroffenen Menschen bewusst sind, dass ihr durch die Erkrankung resultierendes Vermeidungsverhalten unvernünftig, verselbstständigend oder der effektiven ‹Situationsbedrohung› gegenüber unangemessen ist.»

Wie sich soziale Medien auf die soziale Phobie und ähnliche psychische Leiden auswirken, findet Marc Risch schwierig zu beantworten, da es beiderseitige Effekte zu beleuchten gibt. Bei Menschen, die an sozialen Phobien leiden, könne durch soziale Medien oder virtuelle Räume in Einzelfällen auch dem Schutzbedürfnis nachgekommen werden. «Wir haben im Rahmen der Pandemie erlebt, dass eine gewisse Anzahl der Patienten die Onlinetherapien nicht nur bevorzugt hat, sondern sie sich in diesem Setting besser auf die Therapie haben einlassen können.» Andererseits bergen die sozialen Medien oder Onlinemöglichkeiten auch Gefahren. So können sich Menschen, die an sozialen Phobien leiden, durch Online-Einkaufsmöglichkeiten komplett aus dem öffentlichen Lebensraum zurückziehen. Ob sich die Pandemie für Betroffene eher als Fluch oder Segen darstellt, könne nicht verallgemeinernd beantwortet werden. Risch kann sich aber vorstellen, dass der soziale Druck auf Menschen, die an sozialen Phobien leiden, im Rahmen der Pandemie etwas kleiner gewesen sein dürfte. Gleichzeitig sei aber festzustellen, dass Panikerkrankungen, Zwangserkrankungen, auch Essstörungen und Angststörungen im Allgemeinen zugenommen haben – in welchem Ausmass könne aktuell aber nur geschätzt werden.

Heilungschancen sind mit dem richtigen Therapieansatz gut

Mit niederschwellig zugänglichen Beratungs- und Therapiemöglichkeiten kann Betroffenen wie dem Mann im Supermarkt geholfen werden. Das therapeutische Mittel der Wahl ist eine intensive kognitive Verhaltenstherapie, gegebenenfalls ergänzt durch individuell angepasste medikamentöse Unterstützung, weiss Risch. «Hierbei spricht man in der medikamentösen Behandlung von ‹window of opportunity›: Das Fenster der Handlungsmöglichkeiten muss zuerst – eventuell durch medikamentöse Hilfe – einen kleinen Spaltbreit geöffnet werden, damit die psychologisch-psychotherapeutische Arbeit nachhaltig wirken kann.» Die Chancen auf Heilung sind, wie bei fast allen psychischen Erkrankungen, wenn früh genug und richtig ­diagnostiziert sowie zeitnah in ein optimales Behandlungssetting eingebunden: sehr gut.

Artikel erschienen in der LIEWO 20.02.2022
Hier finden Sie das pdf

 

 

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