Nachbetrachtung zum Stiftungsevent der Stiftung TIEFSINN

Am 09.März 2022 wurde im Zuge des Konzerts Arpeggione in Triesen die Stiftung TIEFSINN durch Dr. med. Marc Risch vorgestellt. Sie soll den Dialog für psychisch Erkrankte auf unterschiedlichen Ebenen führen, sie soll informieren, bilden sowie enttabuisieren und Betroffene auch finanziell unterstützen.

www.tiefsinn.org

Auszug aus der Ansprache von Dr. med. Marc Risch zur Vorstellung Stiftung TIEFSINN 

Geschätzte Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Medienschaffende, liebe Musikerinnen und Musiker des Orchesters Arpeggione

Ich will Ihnen im Namen der Stiftung TIEFSINN Danken! Danken dafür, dass sie mit ihrer heutigen Präsenz vor Ort hier im Guido-Feger Saal in Triesen ein Zeichen setzen. Ein so wichtiges Zeichen für Menschen mit Psychischen Erkrankungen.

Menschen aller Altersstufen die psychisch erkrankt sind und deren Angehörige haben häufig keine Stimme und Finden nicht das Gehör, sie finden nicht die Hilfen, die sie so dringend benötigen. Die Stiftung TIEFSINN will hier und auf verschiedenen Ebenen einen aktiven Beitrag zur Verbesserung der Situation psychisch erkrankter Menschen und v.a. für die oft vergessenen Angehören leisten. Angehörige sind Kinder aber auch Eltern und Partner von Erkrankten, die oft höchste Stressbelastungen aushalten müssen und im Dunkelfeld der Gesellschaft still leiden. Die Stiftung TIEFSINN will im deutschsprachigen Raum die Stimme für Mental-Health Themen erheben und ja, sie will auch den Finger erheben und sich AKTIVst-Handelnd in den medizinischen und gesellschaftspolitischen Dialog einbringen. Die Behandlungsstrukturen sind weltweit, überregional und regional unzureichend. Die Wartezeiten für ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlungsplätze sind unerträglich lang und Treiben Betroffene in die Chronizität. Spezialisierung in der Psychiatrischen Versorgung hinkt im Vergleich zur körpermedizinischen Spezialisierung deutlich hinten nach.

Wissen sie wie häufig Affektive Erkrankungen, zu denen Angststörungen, Panik- und Zwangserkrankungen und Depressionen zählen sind? Die Lebenszeitprävalenz liegt bei 1:5. Um dies zu illustrieren, würde das übersetzt für diesen Saal heissen, dass jeder 5. hier im Saal einmal im Leben schwer an einer Depression erkranken wird, bereits war oder gerade ist. Die Punktprävalenz meint dasjenige Mass an aktuell erkrankten Menschen in einem grösseren Kollektiv – diese liegt bei 10% – auch für diesen Saal. Nachdem Affekt-Erkrankungen aber keine Gesichtserkrankung sind, sehen sie es ihrem Nachbarn nicht an wie sein seelisches Befinden gerade ist. Bezogen auf Liechtenstein dürfen wir davon ausgehen, dass bei einer Bevölkerungszahl von gerundet 40’000 Einwohnerinnen und Einwohnern, 4000 Personen derzeit schwerwiegend erkrankt und in Behandlung sind oder sein sollten.

Durch die SarsCov2 Pandemie und die kriegerischen Auseinandersetzungen und die weltweite Bedrohung dadurch, ist davon auszugehen, dass die WHO ihre Prognose, dass die unipolare Depression im Jahr 2030 der häufigste Erkrankungsgrund und die häufigste Todesursache darstellt und die Herz-Kreislauferkrankungen ablösen wird, nach unten korrigieren muss. Wichtig ist auch, dass WHO und Weltbank in einer gross angelegten Studie vor wenigen Jahren die direkten und indirekten Schadenskosten pro Jahr durch nicht oder zu spät behandelte psychische Erkrankungen errechnet haben.

Raten sie mal wie hoch dieser Betrag ist? 1000 Mrd. USD. Für mich war diese Zahl bis zum aktuellen Krieg verrückt hoch. Als jüngst der Deutsche Bundestag an einem Sonntag im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro verabschiedet hat, ist für mich die Zahl von 1000 Mrd. US-Dollar mit einem Schlag «greifbar» geworden. Die gleiche Studie von WHO und Weltbank hat auch den sogenannten ROI, den «social return on investment» durch Investition in niederschwellig zugängliche Beratungs-, Hilfs- und Therapiestrukturen berechnet. Dieser liegt bei 1:4. Dies meint, dass für jeden eingesetzten Franken, Dollar oder auch jede anderen Währung 4 Wertäquivalente eingespart werden könnten. Und wer investiert nun einen Milliardenbetrag in die psychische Gesundheit?

Die Stiftung TIEFSINN will helfen, dass wir im deutschsprachigen Raum von einem reinen Versorgungs- und kostengetriebenen Denken in einen Dialog über «Lebensqualitätbereinigte Lebensjahre» in Englisch «quality adjusted life years» kommen. Dies meint, dass wir gesamtgesellschaftlich dahin kommen müssen, dass die Krankheitsbelastung über die Lebensspanne bei stetig steigender Lebenserwartung nicht zu sondern abnimmt. Das englische Mass dazu ist die sog. «burden of disease». Es sind verrückte Zeiten in denen wir Leben. Psychisch erkrankte Menschen und ihr Umfeld leiden besonders – wie ausgeführt oft im Stillen – aus Angst vor Stigmatisierung und sozialer Exklusion und aus Scham. Im Foyer liegt für sie zur Entnahme ein jüngst erschienener Artikel auf, der sich u.a. zum «Häufigkeits-Scham-Paradoxon» psychischer Erkrankung äussert.

Die Stiftung Tiefsinn will die Stimme erheben, Laut sein, wo nötig unangenehm sein und gleichzeitig vermitteln, informieren und damit entstigmatisieren – Schritt für Schritt: Geduldig und Kraftvoll mit einer Kraft, die Menschen mit psychischer Beeinträchtigung und ihr Umfeld eben nicht mehr aufbringen können.

So steht neben der Einzelfallhilfe, wenn notwendige Behandlungen für Patientinnen und Patienten nicht zugänglich sind ein übergeordnetes systemisches Ziel. Ich darf an diesem Punkt besonders hervorheben, dass wir bspw. in der Versorgung psychisch schwer erkrankter Menschen bereits eine enge Zusammenarbeit mit SOS-Kinderdorf Liechtenstein haben, die die stationären Aufenthaltskosten für das Baby von an schweren, peripartalen Depressionen erkrankten Müttern übernehmen. Ebenso arbeiten wir, wenn familiäre Systeme schwerwiegende beeinträchtigt sind beispielsweise mit den Kolleginnen der Sophie von Liechtenstein Stiftung zusammen.

Wir hoffen mit dieser Veranstaltung weitere Kooperationen um Leid zu verhindern erschliessen zu können und wichtige versorgungsrelevante Themen auf die Agenda zu bringen und sie so lange dort zu halten, bis sie gelöst sind. Die Stiftung TIEFSINN will öffentlich sehr aktiv in Erscheinung treten und sich auch der Psychoedukation widmen: Durch Vortragstätigkeiten in einer verständlichen Sprache, durch Fachbeiträge in deutschsprachigen Medien und durch Impulsvorträge internationaler Grössen. Unser Wunsch ist es zum Beispiel, dass wir es schaffen hier in diesem Saal, wo heute unsere Freunde und die Einzelsolisten des Orchesters Arpeggione bei uns sind, beispielsweise einen Prof. Bulmore, der ein beeindruckendes Buch mit dem Titel «DIE ENTZÜNDETE SEELE» geschrieben hat, begrüssen können – wir hoffen schon jetzt, dass sie dann auch wieder mit dabei sind, liebe Gäste.

Titel und Inhalt dieses Buchs fokussieren auf das immer wichtiger werdende Gebiet der Psycho-Neuro-Immunologie. Dabei handelt es sich um Erkenntnisse der Stressforschung, bei denen es im Wesentlich darum geht zu verstehen welche therapeutischen Aspekte am wirksamsten sind. Wir wissen bereits jetzt, dass ein therapeutischer Dreiklang aus sprachbezogenen, nicht-sprachbezogenen Therapien und einer klug gewählten, individualisierten Psychopharmakotherapie bei Affekterkrankungen am wirksamsten ist. Die nicht sprachbezogenen Therapien, kunst- und klang-Therapie aber auch bewegungstherapeutische Verfahren sind höchst-effektiv, werden aber im ambulanten Kontext beispielsweise, gleich wenig wie die nachgewiesen wirksamen tiergestützten Therapieverfahren von Kostenträgern übernommen. Prof. Bulmore liefert hier den argumentativen Unterbau für eine seit langem dringend notwendige Diskussion um die Frage, welche Therapieleistungen in der Grundversorgung abgebildet sein müssten.

Sie haben sich vielleicht gefragt, wieso die Stifter den Begriff TIEFSINN gewählt haben. Nun: Tiefsinn ist sprachwissenschaftlich eine der positiven Deutungen des Depressionsbegriffs und unterstreicht unsere Haltung einer positiven Psychologie. Dem tiefsinnig-hinterfragenden eines depressiven Menschen darf nicht mit einer Anti-Medizin (Antibiotika, Antidepressive) entgegengetreten werden. Nein! Der Tiefsinn ist in der Therapie als Wert zu erhalten und durch individualisierte therapeutische Arbeit zu «reframen».

Die Stiftung Tiefsinn setzt sich für Chancengleichheit, Gleichberechtigung und Inklusion psychisch erkrankter Menschen ein und das nicht nur am Tag der Psychischen Gesundheit, sondern 365 Tage im Jahr. Ein weiter Weg, den wir mit hoffentlich ihrer Unterstützung schaffen.

Lieber Herr Dr. Samiian. Sie haben die Podiumskonzerte vor 2 Jahren zum ersten Mal in die Psychiatrische Klinik nach Gaflei gebracht. Eine Initiative unter der Schirmherrschaft I.K.H. Sophie von Liechtenstein, die zum Ziel hat jungen Künstlerinnen und Künstlern Auftritts-Erfahrung in sensiblen Umfeldern zu ermöglich. Ich war, wir waren tief beeindruckt und wir sind Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen dankbar für ihr unermüdliches Tun. Bereits damals hatten Sie die Idee «Gemeinsam etwas Grösserer zu machen» – und das machen wir heute gemeinsam hier mit Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen des Orchesters Arpeggione. Ich freue mich sehr auf das «Nachfolgende» und schliesse mit einem Zitat, das sie mir lieber Herr Samiian eröffnet haben und das treffender nicht sein könnte. Lord Yehudi Menuhin hat gesagt: MUSIK HEILT, MUSIK TRÖSTET, MUSIK BRINGT FREUDE.

In diesem TIEFSINNE danke Ich ihnen und gebe die Bühne wieder frei für den Klang des Orchesters Arpeggione und die Solisten.

Dr. Marc Risch FA f. Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Praktischer Arzt, Chefarzt Clinicum Alpinum

Weitere Informationen und Möglichkeiten zur Unterstützung der Stiftung TIEFSINN finden Sie unter www.tiefsinn.org

Kurzer Videoausschnitt der Ansprache von Dr. med. Marc Risch

Interview mit Michaela Risch, Stiftungsratspräsidentin der Stiftung TIEFSINN, mit Radio L

Artikel über die Stiftung TIEFSINN im Liechtensteinischen Vaterland

 

Orchester Arpeggione in Hohenems

 

 

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